Programmzettel Die Gehaltserhöhung
Ein namenloser Angestellter nimmt sich vor, einen besseren Lohn zu verhandeln. Doch trotz anfänglicher Entschlossenheit arbeitet er sich äußerst umständlich zu seinem Ziel vor: In unzähligen Variationen wird der Weg zum Büro des Chefs durchgespielt, werden wie in einer komplexen mathematischen Aufgabe alle Eventualitäten abgewogen, die entlang der Firmenflure das Vorhaben durchkreuzen könnten.
Ist der Abteilungsleiter überhaupt in seinem Büro? Sagt er herein oder sagt er nicht herein? Ist die Stimmung günstig? Nimmt die Sekretärin das Anliegen entgegen? Ja? Nein? Was dann? Machen Sie einen Gang durch die verschiedenen Abteilungen des Unternehmens und warten Sie, bis ein besserer Tag kommt, um Ihren Abteilungsleiter aufzusuchen.
Die Gehaltserhöhung ist ein hochrhythmisches Stück über Arbeit und Entfremdung, über Ermüdung und das Altern. Es ist ein lustvolles, absurdes Sprachspiel, das aktuelle Fragen in einer sich stetig wandelnden Berufswelt berührt: Wie viel ist die eigene Arbeit wert? Welche Jobs sind sinnstiftend, welche überflüssig, welche unsichtbar gemacht?
Von Arbeit und Lohn Lilly Busch
Als der Finanzminister Christian Lindner kürzlich befand, in Deutschland werde zu wenig gearbeitet, schlug er vor, man müsse den Menschen Lust machen auf die Überstunde, zum Beispiel durch Steuerfreiheit für Mehrarbeit ab 41 Wochenstunden. Dabei führen mehr Arbeitsstunden bekanntlich gar nicht unbedingt zu mehr Produktivität. Sowohl Burnout als auch Boreout – von der eigenen Tätigkeit überlastet und ausgelangweilt zu sein – sind unter Menschen in Vollzeitbeschäftigung häufig. Das lässt bezweifeln, ob es das beste Rezept für eine gelingende und gesunde Gesellschaft ist, möglichst viele Menschen in möglichst viel Arbeit zu bringen, und dadurch mitunter auch Selbstwert an beruflichen Erfolg zu knüpfen.
Die heute übliche 40-Stunden-Woche ist historisch eine Errungenschaft, Ergebnis eines politischen Kampfes. Anfang des 20. Jahrhunderts trat die Arbeiterbewegung erfolgreich dafür ein, die Arbeitszeit, die zuvor täglich zehn Stunden betragen hatte, zu verkürzen und den Tag in drei gleichgroße Bausteine einzuteilen: Schlaf, Arbeit und Freizeit zu jeweils acht Stunden. Nur blieb dabei außen vor, dass die Menschen und vor allem Frauen nach acht Stunden Lohnarbeit nicht einfach frei haben, sondern zuhause verschiedenste Formen von unbezahlter Care-Arbeit leisten: von Haushalt über Kinderbetreuung bis zur Pflege von Angehörigen. So kann die freie Zeit in der 40- Stunden-Woche von vornherein nur deutlich kürzer ausfallen als der Arbeitstag. Heutzutage sind andere Arbeitszeitmodelle vielfach diskutiert und finden zunehmend auch Eingang in die Praxis. Die Soziologin Frigga Haug hat ein radikaleres Modell entworfen, das an einem Tag neben acht Stunden Schlaf je vier Stunden Lohnarbeit, Care-Arbeit, kulturelle Arbeit und politische Arbeit vorsieht. So bliebe ausreichend Zeit für andere Tätigkeiten, die, utopisch gedacht, für genauso selbstverständlich und grundlegend für die Gesellschaft erachtet werden könnten wie Lohnarbeit – und die zum Wohl der Demokratie und des Planeten nötig sind. Neben Reduktion ist Umverteilung ein Schlüssel: Das Weltvermögen der Reichsten anteilig nach unten umzuschichten, wäre ein wichtiger Ansatz für eine gerechtere Verteilung von Arbeit und Zeit.
Im Konsumkapitalismus ist die geläufige Währung für Wert und Anerkennung: mehr Geld. Schließlich ist Geld die Bedingung für einen angenehmen Lebensstandard. In Georges Perecs Gehaltserhöhung steckt sich dementsprechend ein Angestellter das Ziel, für seine beflissene Arbeit eine angemessene Entlohnung zu erhalten. Das Stück ist mehr als 50 Jahre alt, dennoch klingt der darunter liegende Diskurs rund um Arbeit erstaunlich aktuell an. Die Kritik an einer ganz auf Produktivität und Beschleunigung ausgerichteten Gesellschaft wird bei Perec nicht nur thematisch, sondern vor allem in der literarischen Form spürbar. Kein Zufall, denn Georges Perec (1936-1982) war französischer Formalist und Mitglied der Werkstatt für potentielle Literatur (Ouvroir de littérature potentielle, kurz Oulipo), zusammen mit Schriftstellerfiguren wie Raymond Queneau. Die Oulipoten interessierten sich für das kreative Potenzial von Formzwängen, also für Erzählung durch Sprachkombinatorik anstatt beispielsweise psychologischer Figurenzeichnung. Das vorliegende Theaterstück ist dafür exemplarisch. Die Gehaltserhöhung hat einen verschlungenen Entstehungsweg: 1968 verfasste Perec für die Zeitschrift Enseignement programmé erstmals einen Prosatext mit dem Titel Über die Kunst seinen Chef anzusprechen. Darauf folgte 1969 eine deutsche Hörspieladaption mit dem Titel Wucherungen sowie das 1970 in Paris uraufgeführte französische Theaterstück L'Augmentation (Die Gehaltserhöhung), das Anita Vulesica nun am Deutschen Theater inszeniert. Dem Text liegt ein Organigramm zugrunde, eine Art Entscheidungsbaum, der entlang einer verzweigten Entweder-Oder-Struktur den Weg hin zur angestrebten Situation – den Abteilungsleiter um eine Gehaltserhöhung zu bitten – visualisiert. Perec entschied sich in seinem literarischen Verfahren nicht für einen möglichen Verlauf, sondern er beabsichtigte, alle möglichen Erzählverläufe erschöpfend aneinanderzureihen. In dieser mathematischen Methode kommen immer mehr Eventualitäten hinzu, werden immer groteskere Variationen aufgeblättert. Die Sprache formt bei Perec eine ins Absurde führende Mechanik, ist ein unermüdliches rhythmisches Durchexerzieren einer Struktur – ist selbst Arbeit. Und während unter den ständigen Neuanläufen zum Büro des Chefs die Lebenszeit des Angestellten vergeht, wächst das Unternehmen zu einem gigantischen Großkonzern – was, wie sich zeigt, eine Gehaltserhöhung nicht unbedingt wahrscheinlicher macht.
Die Figur des Angestellten ist im Stück sechsstimmig aufgeteilt in das Angebot, die Alternative, die positive und die negative Hypothese, die Wahl und die Schlussfolgerung. Man kann sie sich wie sechs Hirnareale desselben Menschen vorstellen, der immer wieder abwägt und Anlauf nimmt, um mehr Gehalt zu bitten. Bei Anita Vulesica kommen zwei hinzu: Der Abteilungsleiter taucht höchstselbst auf, ebenso wie Frau Jolande, als unerschütterliche musikalische Bürokraft. Die Bühnenumsetzung der Gehaltserhöhung spielt mit den Grenzen nicht nur sprachlicher, sondern auch physischer Verausgabung, und denkt dabei bewusst mit, dass auch Theatermachen Arbeit ist, im Entstehungsprozess wie in der Live-Aufführung für das Publikum. Das NoFuture-Gefühl des Punks, aus dem eine widerständige und konsumkritische Bewegung erwuchs, spielt dabei gedanklich eine Rolle und setzt trotz empfundener Ausweglosigkeit auch manch hoffnungsvolle Kraft frei: Auch wenn es eine Sisyphusaufgabe ist, so ist doch letztlich streit- und veränderbar, wie viel wir pro Tag, Woche und Leben arbeiten. Und was uns, außer Arbeit, noch ausmacht.
Komik ist Arbeit Gespräch mit Anita Vulesica
Die Gehaltserhöhung von Georges Perec variiert die immergleiche Situation: Ein Angestellter versucht, sich dazu durchzuringen, eine bessere Entlohnung einzufordern. Was interessiert dich an dem Stoff?
Mich interessiert zunächst einmal die Form des Stücks. Es hat einen bestimmten Rhythmus, der aus der Form erwächst und wie eine mathematische Rechnung aufgebaut ist. Inhaltlich packt es mich, weil es eine witzige, absurde Situation ist, die wir alle kennen: Man befindet sich mittig oder unten in einer Hierarchie und hätte gern mehr Geld oder Beachtung. Man legt sich Gedanken zurecht und spricht sich Mut zu, um sich überhaupt vorstellen zu können, dem Vorgesetzten vor die Augen zu treten. Darin steckt für mich in erster Linie die Frage nach dem Selbstwert: Was macht mich wertvoll und was ist ein wertvolles Leben? Bin ich nur etwas wert, wenn ich hart arbeite, und Lob von meinem Chef kriege? Das Thema beginnt im Inneren, im psychologisch Menschlichen, und reicht gedanklich bis hin zur großen sozialen Schere.
Das Stück ist ein kapitalismuskritischer, aber auch ein sehr lustvoller, absurder Text. Haben die Mittel der Komödie ein besonderes Potenzial, um dem Thema zu begegnen?
Mein Ansatz ist nicht, Trauer mit Trauer zu erzählen, Kritik mit Kritik, oder Ernst mit Ernst. Ich brauche die Mittel der Komik, um die Frage zu behandeln: Wie überleben wir das alles? Wie überwinden wir die Ängste? Vieles, was wir Menschen im Spätkapitalismus den Tag lang tun, ist im Grunde genommen albern. Im Supermarkt vor einem Regal mit 15 verschiedenen Erdbeerjoghurts zu stehen und ganz ernst abzuwägen: Will ich den mit Körnern drin, oder den mit nur zwei Prozent Fett? Das ist doch absurd! Die Absurditäten des Lebens sichtbar zu machen und auf die Spitze zu treiben, das ist genau mein Ding. Auch Kunst machen ist Arbeit. Hinter dem, was sich auf der Bühne als Leichtigkeit vermittelt, steckt oft großer Einsatz. Zuschauer:innen bewundern oft, dass Schauspieler:innen so viel Text auswendig können. Dabei ist Textlernen die kleinste Herausforderung: Das Publikum zum Lachen zu bringen, klug und überraschend mit Erwartungen zu spielen, bedeutet irrsinnig viel Arbeit, weil es extrem genau sein muss. Komik ist Timing. Man muss ein Gespür dafür entwickeln, genau das Richtige zur richtigen Zeit zu tun – sonst ist es nicht witzig.
Kreativität hält sich nicht immer an Bürozeiten. Nicht zuletzt die Liebe zur Sache macht es manchmal schwer, Grenzen zu setzen. Oder?
Es gibt Arbeit, die leicht fällt, weil sie Spaß macht und Befriedigung gibt. Theatermachen gehört für mich dazu. Aber es gibt auch die Grenzen des Körpers oder der Gesundheit, an die wir mitunter stoßen. Ich würde mir wünschen, dass Institutionen weniger auf Quantität setzen. Dass eine gute Regisseurin zu sein sich nicht danach bemisst, so viele Premieren wie möglich zu machen.
Der Gebrauch von Künstlicher Intelligenz führt zu Veränderungen in vielen Lebens- und Arbeitsbereichen. Hast du damit künstlerisch Berührungspunkte?
Ja, ich denke das bei der Gehaltserhöhung inhaltlich mit, weil die Geschichte der Arbeit durch KI gerade eine neue Phase erreicht. Perec selbst hat sich mit künstlicher Intelligenz schon 1968 in dem Hörspiel Die Maschine beschäftigt. Über einen mehr als 50 Jahre alten Text bin ich also momentan tief in dem Thema drin. Das Theater lebt trotzdem vom Analogen: Echte Menschen schwitzen in echt auf der Bühne und sagen in echt auswendig gelernten Text in genau diesem Moment. Unsere Vorfahren haben schon in Höhlenkunst gemacht. Sie haben versucht, das Erlebte nochmal für andere zu erleben, indem sie malen oder spielen. Das tun wir auch im Theater. Ich kann mir kein Theater vorstellen, wo Avatare Romeo und Julia spielen.
Das Gespräch führte Lilly Busch.
„Wo käme die riesengroße Organisation, von der Sie nur ein mikroskopisches Rädchen sind, schließlich hin, wenn jedes mikroskopische Rädchen gleich beim ersten Mal, bei dem es darum bittet, eine Gehaltserhöhung bekäme?“
- Aus: Die Gehaltserhöhung