© Lex Karelly_Schauspielhaus Graz Frieder Langenberger, Beatrice Frey, Raphael Muff, Evamaria Salcher, Moritz Grove

Programmzettel Die kahle Sängerin

  • Schräger Klassiker
  • Absurdes Theater
  • Sprechballett

Die Handlung (wenn man das, was geschieht, so nennen darf) ist rasch zusammengefasst: Mr. und Mrs. Smith, die sich nach dem Abendessen gewaltig miteinander langweilen, bekommen Besuch von einem befreundeten Ehepaar, das bei seinem Auftritt erst einmal klären muss, ob es einander kennt. Am Ende eines langen Dialogs stellen sie erfreut fest, dass sie im selben Bett schlafen, verheiratet sind und ein Kind haben. Die Abendunterhaltung zu viert wird noch merkwürdiger: Das Dienstmädchen Mary glaubt, es sei Sherlock Holmes und ein Feuerwehrmann stiftet Verwirrung. Und was macht eigentlich die kahle Sängerin?  Das Stück mit dem merkwürdigen Titel gilt als Gründungsdokument des Absurden Theaters, das in den 50er Jahren u. a. durch Samuel Beckett berühmt wurde. Im Angesicht der Gräuel der Nazizeit und des Zweiten Weltkriegs postuliert es in Form und Inhalt die Sinnlosigkeit als einzig sinnvollen Daseinszustand. Im Ergebnis ist diese zutiefst melancholische Bestandsaufnahme allerdings höchst vergnüglich: Skurrile Figuren in humorvollen Situationen ergeben pralles Theater, in dem sich bizarre Dialoge zu einem Ballett aus sinnentleerten Phrasen und Nonsens-Sätzen steigern.

Tragödie der Sprache, Komödie des Menschen von Karla Mäder 

Man muss sich das Erscheinen der Kahlen Sängerin als Skandal und Sensation vorstellen. Ein Text, der sich herausfordernd als „Anti-Stück“ bezeichnet, in elf Szenen alle bis dahin geltenden Regeln der klassischen Dramatik aushebelt oder ignoriert, in dem eine Wanduhr mit- und verrücktspielt, in dem es um nichts wirklich Greifbares geht und das am Ende eine kakophonische Sprachverwirrung zelebriert: So etwas scheinbar Sinnentleertes hatte man seit Dada nicht gesehen. Ionesco verfasste sein erstes Theaterstück aus dem Impuls heraus, das französische Konversationsstück zu kritisieren. Dafür adaptierte und kombinierte er Sätze aus einem Englischlehrbuch mit Fetzen aus dem eigenen Sprachgebrauch oder dem seiner Freunde. Nach eigener Aussage führte die Anhäufung dieser „Wortleichen“ zunächst zum „Ekel einer unnennbaren Traurigkeit“, dann zu „nervösen Depressionen“ und schließlich zu „einer richtigen Erstickung“. Erst als ein junger Regisseur den Text in die Hände bekam und es „für ein Theaterstück hielt“ (Ionesco), besserten sich die unguten Gefühle des Autors. Zwar waren von den 50 Plätzen im Pariser Uraufführungstheater oft nur wenige Sitze besetzt, doch begründete die Kahle Sängerin den Aufstieg Ionescos als Dramatiker von Weltgeltung und inspirierte nicht nur Samuel Beckett, der ebenfalls als Exilant im Nachkriegsparis lebte.

Ab Mitte der 50er Jahre war Ionesco im In- und Ausland in aller Munde. Bis ins hohe Alter blieb er ungemein produktiv, schrieb neben Dramen auch Essays, Erzählungen und Romane, hielt Vorträge. In den letzten Jahren seines Lebens plagten ihn Depressionen und er begann als Therapie mit dem Malen und Zeichnen. Er starb mit 84 Jahren und ist neben vielen Großen Frankreichs auf dem Cimetière Montparnasse beigesetzt – als mit Preisen und Ehrungen aller Art bedachter, 1970 in die Académie Française aufgenommener, ungekrönter König des Absurden Theaters und einer der größten französischen Dramatiker.

Ionesco selbst war überzeugt gewesen, ein Stück über die „Tragödie der Sprache“ geschrieben zu haben und war erstaunt, dass sein Stil als eher komisch empfunden wurde. Doch unter der heiteren Oberfläche der Kahlen Sängerin – die nicht zuletzt dafür sorgt, dass sie anhaltend und weltweit auf den Spielplänen hält – verbirgt sich eine tiefere, überzeitliche Sprachkritik, die entdecken kann, wer will. Nicht selten war das Unbehagen an den Unzulänglichkeiten und Beschränktheiten der sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten ein Motor für die Literaturproduktion: Kleist z. B., der im 19. Jahrhundert eine Erkenntniskrise in Briefen verarbeitet und dessen Stücktexte voll sind mit Bindestrichen (teils drei hintereinander), die für Unsagbares oder Unsägliches stehen. Oder Hugo von Hofmannsthal, der 1902 mit dem Chandos-Brief ein poetologisches Dokument verfasste, in dem er der Sprachskepsis der Jahrhundertwende eine Form gab und eine Sehnsucht nach Ausdruck jenseits der Sprache formulierte, um dem glühenden Gefühl im Inneren gerecht werden zu können. Zusammen mit der Sprachskepsis blühten sprachlose Kunstformen auf, die sich auch aus den neuen technologischen Möglichkeiten ergaben – vom Ballett bis zum Stummfilm.

Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Ausmaß der Handlungsmacht von Sprache erforscht und eindrücklich analysiert z.B. von Viktor Klemperer 1947 in LTI. Notizbuch eines Philologen. Darin geht der jüdische Intellektuelle der Frage nach, wie die Sprache des Dritten Reichs konzipiert und strukturiert war, welche Begriffe eine fatale Alltäglichkeit erhielten und damit wiederum die Wirklichkeit formten, und wie Sprache als omnipräsentes, alles durchdringendes Verständigungsmedium zum ideologischen Akteur werden kann. An einer Stelle formuliert Ionesco seine Erkenntnis, dass das Versprechen der Freiheit am Ende nur in die Unfreiheit und schlimmstenfalls ins Konzentrationslager geführt habe. Er schließt daraus, dass jede Form von Engagement und Realitätsgläubigkeit den Keim des Fanatismus in sich trage. Als Gegengift sieht er Fantasie und Humor, die nicht ohne Intelligenz existieren.

In der Kahlen Sängerin sind es spießbürgerliche Bourgeois, die er aufs Korn nimmt: eine privilegierte Gesellschaftsschicht, die als naiv-gefährlich und intellektuell mittelmäßig charakterisiert wird, die unkritisch die jeweils herrschende Ideologie unterstützt, deren Sprachgebrauch voller Gemeinplätze ist, deren Begegnungen von Automatismen nur so strotzen und deren Gespräche voll Plattitüden, leerer Schlagworte, hohler Phrasen und nichtssagender Konversationen sind. Das Ergebnis: Nonsense, Unlogik, Absurditäten.

Und heute? Scheinen wir uns wieder mitten in einer Sprachkrise zu befinden, die durch Rücksichtsgebote und Sprechverbote ausgezeichnet ist. Allerlei neue Regeln werden ausgerufen, deren Gebrauch nicht wenigen unbehaglich ist: z. B. der Glottisschlag (die kleine Pause zwischen Wortstamm und Endung), mit dem gendergerecht gesprochen werden kann; Abkürzungen wie „N-„ oder „Z-Wort“ für rassistisch konnotierte Begriffe; immer andere typographisch herausfordernde Ideen wie z. B. das Gendersternchen oder der Doppelpunkt, den auch wir in offiziellen Texten benutzen; die Einbürgerung neuerfundener Worte wie z. B. „Gästin“; oder die eigentlich sinnhaft falsch verwendeten Partizip-I-Konstruktion wie z. B. „Studierende“, mit denen Halbentschlossene oder Effiziente das ihnen suspekte Gendern halbwegs elegant umschiffen können. Gerade die deutsche Sprache mit ihrer komplizierten Grammatik hat es nicht leicht, mit den moralischen Imperativen der Gegenwart umzugehen. Bleibt abzuwarten, ob die aktuelle Sprachkrise wie in den Jahrhunderten zuvor zu einer kritisch-kreativen Literaturproduktion führt – oder ob das Gebot des sensiblen Sprachgebrauchs zur autoritär durchgedrückten Vorschrift wird, die direkt oder indirekt in eine Art (Selbst-)Zensur mündet.

Mit Ionesco kann man sich immerhin gut von der Vorstellung befreien, dass Theater immer moralisch richtig sein muss: „Was wichtiger an einem Stück als seine Lehre ist? Ganz einfach: die Geschehnisse, die Dinge, die sich ereignen und verknüpfen, sich auflösen und vorbeigehen. […] Das ist die Kunst: Wunderbares, das lebt. Und das vor allem muss das Theater sein.“

Heiter scheitern Gespräch mit der Regisseurin Anita Vulesica

Ich habe den Eindruck, dass du dich als Regisseurin zu komödiantischen Stoffen hingezogen fühlst. Richtig?

Ionesco hat gesagt, dass er die Trennung zwischen Komödie und Tragödie nie verstehen konnte. So sehe ich das auch. Ich empfinde die Komödie als Tragödie minus Zeit, das ist meine Formel. Komödie handelt vom Immer-wieder-vergeblich-Versuchen und vom Scheitern. Und das ist wahnsinnig tragisch und komisch zugleich. Ich glaube, dass Komödien uns in dieser krisengeschüttelten Zeit heute trösten können – und damit meine ich nicht ablenken. Sondern, dass Menschen im Theater gemeinsam lachen und etwas Urmenschliches erkennen: Man lacht über sich, indem man anderen beim Scheitern zuschaut. Ionesco spricht auch vom „Abstand zu sich selbst“ und meint damit die Fähigkeit, alles Handeln auf der Welt aus der Distanz zu betrachten und dadurch zu verstehen, wie „rührend vergeblich“ das Leben ist. Wie sollen wir aber nun all dem vergeblichen Tun einen Sinn geben? –  Indem wir uns Sisyphus als einen fröhlichen Menschen vorstellen.

Ionesco bezeichnet sein Stück als Ballett. Was ziehst Du aus diesem Hinweis?

Ionesco hat gesagt, dass die Deutschen sein Stück nicht verstünden, weil sie es naturalistisch oder psychologisch-realistisch interpretieren, anstatt zu begreifen, dass es ein „aggressives Ballett“ ist. Mir leuchtet das total ein! Das Stück ist sehr rhythmischmusikalisch geschrieben, und Theater hat grundsätzlich einen körperlichen Auftrag, einfach, weil echte Körper live auf der Bühne stehen. Und ich komme selbst aus einer Spielweise, bei der sich nicht alles nur im Kopf und beim Sprechen abspielt, sondern wo bis hinunter zum kleinen Zeh etwas ausgedrückt werden kann. Oft ist es interessanter zu zeigen, was der Körper macht und nicht das, was der Text erzählt. Gerade Schauspielerkörper können, weil sie keine Tänzerkörper sind, durch den Versuch etwas umzusetzen, sehr ulkig sein.

Worum geht es für Dich in Die kahle Sängerin?

Ionesco sagt, Die kahle Sängerin handele vom Nichts. Er zeigt, wie sechs Personen vor sich hinplappern und sich um Kopf und Kragen reden, aber einfach etwas Wesentliches nicht zu greifen kriegen. Mir ist der Impuls hinter dem Gerede wichtig: dass man versucht, das Leben beim Schopf zu packen, aber es nicht zu greifen bekommt. Es geht um den vergeblichen Versuch, irgendwie miteinander ins Gespräch zu kommen. Aber alle Antworten reißen auch eigentlich nur wieder Löcher auf. Bis zum Ende, wo sich die Sprache dann kakophonisch auflöst.

Allerdings hast Du das Ende etwas anders gelöst als im Original …

Ich wollte das Stück nicht mit zwei aggressiven Paaren beenden, die sich anschreien, sondern es zum Publikum hin öffnen. Inspiriert hat mich dazu Ionescos große Sehnsucht nach dem Paradies. Aus vielen seiner Texte spricht ein tiefer Humanismus, eine große Liebe zu den Menschen und deren Fehlerhaftigkeit. Ich glaube wie er, das einzige, was uns wirklich retten kann, ist Mitgefühl und Gemeinschaft.

Das Gespräch führte Karla Mäder.