Programmzettel HATE ME, TENDER_ REVISITED
Das Hymen, auch Jungfernhäutchen genannt, ist das Symbol der Keusch- und Reserviertheit, ebendiese zu bewahren und zu beweisen. Und ist gleichzeitig ein regulierendes Konstrukt, das im Diskurs über die weibliche Sexualität eine erschreckend breit gestützte Gültigkeit hat. Kaum eine Figur könnte diesen Diskurs besser illustrieren als die wohl berühmteste Heilige der judäo-christlichen Geschichte – die Jungfrau Maria. In einem humoristischen Solo zwischen Stand-upComedy und Lecture Performance wirft Teresa Vittucci einen unerwarteten Blick auf diese Gottesmutter der unbefleckten Empfängnis und erklärt sie zu einer queeren Heiligen: Was wäre, wenn sie nicht nur für ihre stereotype Weiblichkeit kritisiert, sondern vor allem für ihre Verletzlichkeit, Barmherzigkeit und Liebe verehrt würde? Steckt so in der Heiligen Maria nicht das Potenzial einer Botschafterin für eine mitfühlende und gerechtere Gesellschaft? Teresa Vittucci wirft mit HATE ME, TENDER_ REVISITED einen Blick auf ihre eigene Arbeit: Ursprünglich 2019 beim Wiener ImPulsTanz Festival aufgeführt, mit dem Swiss Dance ausgezeichnet und international auf zahlreichen Festival gezeigt, erfährt die Performance nun in der Box des Deutschen Theaters Berlin eine erneute Betrachtung: _ REVISITED.
Den Hass mit Humor entwaffnen von Johann Otten
Als Giorgia Meloni im September 2022 zur italienischen Ministerpräsidentin und damit ersten Frau an der Spitze der Regierung seit Einführung des Frauenwahlrechts gewählt wurde, konnte die Freude über diesen Aspekt ausgleichender Gerechtigkeit nicht darüber hinwegtäuschen, dass man es bei ihr mit einer bekennenden Faschistin zu tun hatte. Schon in ihrer Antrittsrede verband sie maliziös Nationalismus mit einem binär-religiösen Geschlechterverständnis, in dem sie sich in einem Atemzug als Frau, Mutter, Italienerin und Christin bezeichnete, Attribute, die sie sich nicht nehmen lasse. Freilich gäbe es auch keinen Grund dazu und auch nicht, sich über derlei Selbstbeschreibung zu beklagen, würde nicht ein politischer Anspruch ihrerseits damit einhergehen, alles so nicht Kategorisierbare aus dem gesellschaftlichen Leben zu eliminieren. So verwundert kaum, dass es eine Kampagne war, die gleichermaßen gegen Immigration wie gegen sexuelle Selbstbestimmung hetzte, die ihr zum rauschenden Wahlerfolg verhalf.
Umso erstaunlicher jedoch die versöhnlichen Töne, mit denen das erste Amtsjahr derweil bewertet wird – so schlimm sei doch alles gar nicht gekommen, vielmehr verfinge sich selbst eine ultrarechte Neofaschistin im Dickicht des europäischen Demokratieapparats, der auch ihre rechtsradikalen Spitzen zu kappen imstande sei. Doch ist es gerade der nicht ganz so laute Kulturwandel, der sich ungeachtet staatspolitischer Eingliederung vollzieht: eine zunehmende Angst, sich als sichtbar queere Person oder als gleichgeschlechtliches Paar erkennen zu geben oder ein zunehmend offener ausgesprochener Rassismus – wie die kürzlich erschienene Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung auch der deutschen Gesellschaft attestierte. Eint doch der Hass auf emanzipatorische Bewegungen in Verbindung mit der Propagierung vermeintlich eindeutiger geschlechtsspezifischer Rollenbilder rechte Parteien zwischen Paris, Berlin und Budapest.
„Weiblich sozialisierte Menschen lernen – strukturell gesehen – dass sie gute Mütter werden, Harmonie schaffen, liebevoll, zurückhaltend, barmherzig und schön sein sollen. Sie sollen Fruchtbarkeit ausstrahlen, aber auch Keuschheit, müssen sexy und gleichzeitig exklusiv und zurückhaltend sein. Das ist auch bei Maria der Fall: Bei ihr wird die Verschränkung von Mutterschaft und Jungfräulichkeit zum wesentlichen Kern der idealen Weiblichkeit. “
– Teresa Vittucci
In diesem Kontext mag es erstaunen, gerade die Jungfrau Maria und damit die wohl bekannteste Mutterfigur der judäo-christlichen Geschichte auf ihr feministisches Potenzial und das einer queeren Heiligen zu untersuchen. Gilt doch gerade die Gottesmutter aufgrund ihrer unerreichbaren Mischung aus Jungfräulichkeit und fürsorgerlicher Mutterschaft als Sinnbild einer unerfüllbaren Erwartungshaltung, die auf Frauen projiziert wird. Doch Teresa Vittucci scheut diesen Versuch nicht in ihrer 2019 beim Wiener ImPulsTanz Festival uraufgeführten Performance HATE ME, TENDER, in der sie sich vor allem für die Verletzlichkeit und Barmherzigkeit Marias interessiert. Eigenschaften, die ein nahbares Profil in eine sonst so makellose Oberfläche zeichnen.
Doch gelingt es Vittucci nicht sofort, zu diesem charmanten Teil der Persönlichkeit Marias vorzudringen, steht ihr doch sinnbildlich der unbefleckte Körper im Weg: So gilt es zuerst, sich mit der Vorstellung ihrer Jungfräulichkeit zu beschäftigen und diese zu dekonstruieren. Eine zentrale Rolle der mit dem Schweizer Tanzpreis ausgezeichneten Arbeit spielt dabei das Hymen, das Jungfernhäutchen, das gemeinhin als Beweismittel der Keuschheit gilt und selbst bei Recherchen der Künstlerin auch von manchen Ärzt:innen noch mit dieser Funktion verbunden wird. Dabei ist das Hymen ein elastischer Schleimhautsaum am Eingang der Vagina, der keinerlei Rückschluss auf die sexuelle Aktivität zulässt – die Vorstellung, damit Jungfräulichkeit beweisen zu können, ist also anatomisch unmöglich. Erst nachdem so das zentrale Attribut der Heiligen Maria dekonstruiert ist, erschließt sich ihre Persönlichkeit auch jenseits der vorherigen Idealisierung – ein symptomatischer Vorgang, steht doch der weibliche Körper oft vor jeder weiteren Auseinandersetzung mit dem Menschen.
Die Verkomplizierung einer vermeintlich eindeutigen Frauenfigur erscheint im Lichte rechter politischer Entwicklungen haarsträubend aktuell, weshalb auch Teresa Vittucci ihr im Kontext der schon 2019 sichtbaren, reaktionären Tendenzen innerhalb Europas entwickeltes Solostück einer erneuten Untersuchung unterzieht. Und jetzt, wie schon zuvor, zum Schluss kommt, dass es nur mit Mut, der eigenen Verletzlichkeit lachend ins Gesicht zu blicken möglich ist, dem sich allerorten ausbreitendem Hass zu begegnen. HATE ME, TENDER_ REVISITED ist in der Form eine Grenzgängerin zwischen Tanzstück und Lecture, Stand-up-Comedy und Performance, aufklärend und engagiert, ruiniert nebenbei 2000 Jahre Katholizismus und glaubt dabei vor allem an eines: dass Humor das beste Mittel der Entwaffnung im messerwetzenden Kulturkampf bleibt.
Eine Missionarin in Therapie Gespräch mit Teresa Vittucci
Im Zentrum der Arbeit steht die Jungfrau Maria – was für eine Beziehung hast Du zu ihr?
Als ich angefangen habe, mich mit ihr zu beschäftigen, bin ich schnell an ihrer primären Zuschreibung, ihrer Jungfräulichkeit hängen geblieben, ich bin an diesem Mythos, beziehungsweise der Idee von einem von einem jungfräulichen Siegel regelrecht abgeprallt: Ich konnte diese Figur im wahrsten Sinne des Wortes nicht durchdringen. Das ist symptomatisch: Ich möchte mich mit einer weiblich gelesenen Figur beschäftigen und muss mich zuerst an ihrem Körper abarbeiten. Mich fasziniert an Maria ihre Ambivalenz: ihre Verletzlichkeit und Sanftmut, von der ich denke, dass sie ihre eigentliche Stärke ausmacht und gleichzeitig dieses Bild der Unbefleckten, Unantastbaren, die weint und schweigt.
Bislang galt die Jungfrau Maria allerdings nicht gerade als Ikone der Emanzipation …
Ich weiß natürlich nicht, wie Jesus wirklich war, als historische Figur scheint er etwas richtig gemacht zu haben, doch mit Sicherheit hatte er eine ziemlich tolle Mutter, die ihn zu dem erzog, der er wurde. Dass Maria nicht dafür geschätzt wird, sondern nur als patriarchale Gottesmutter, die als reinste aller Frauen auserwählt wurde, um den Samen in ihrem Unterleib auszutragen, wird ihr nicht gerecht. Maria wird kaum stark dargestellt, meist schaut sie eher blass und krank aus, weint und blickt ganz mitleidig auf ihr Kind, das sie an der Brust hat. Mir war es wichtig, dass Maria eine Stimme bekommt, Subjekt wird und als Kämpferin dargestellt wird. Maria polarisiert, nicht zuletzt, weil sie als weiblich gelesen wird.
In der Performance wird deine Figur der Jungfrau Maria zu einer Aufklärerin über die noch immer viel zu wenig bekannte weibliche Anatomie und entlarvt sehr humoristisch eine mit dem Jungfernhäutchen beweisbare Jungfräulichkeit als Mythos. Täuscht mein Eindruck oder hat der Abend darin selbst etwas Missionarisches?
Durch den christlichen Kontext, in dem ich aufgewachsen bin, war ich als Kind schon auf Missionarscamps. In diesen Camps war die gemeinsame Sprache das Singen und Tanzen, wir sollten die Herzen berühren, um den Glauben zu verbreiten. Heute verstehe ich, welch ein Weltbild mir damit vermittelt wurde und kritisiere den Missionsgedanken, der ja als zentrales Werkzeug der Kolonisation galt, aufs schärfste. Unter dem Deckmantel der vermeintlich guten Tat passieren die schlimmsten Gräueltaten. Trotzdem ist seltsamerweise die Figur, mit der ich in HATE ME, TENDER arbeite, auch ein Art Missionarin – nur für einen anderen Zweck. Vielleicht kann man ja mit gesunden Grenzen missionieren. Vielleicht bin ich eine Missionarin, die in Therapie war. Und alle, die das Stück gesehen haben, dürfen danach auch schließlich nach Hause gehen und denken, was sie wollen. Ich werde nicht anrufen und fragen, ob sie schon queere, intersektionale Feminist:innen geworden sind, keine Angst.
Das Gespräch führte Johann Otten.