Programmzettel Identitti Rezeptionista
Die Studentin Nivedita kann es nicht fassen: Ihre Professorin Saraswati ist weiß! Und das, obwohl Nivedita in ihr ein großes Vorbild, eine Identifikationsfigur und ein role-model in identitätspolitischen Fragen gefunden hatte. Als Tochter eines indischen Vaters und einer polnischen Mutter ist Nivedita oft mit der Frage nach Zugehörigkeit konfrontiert. Durch Saraswatis Seminare kann sie den Rassismus, den sie erfährt, endlich in Worte fassen, seine Auswirkungen auf Identitätsfragen besser verstehen und mehr über sowohl die Entstehung von Rassismus, als auch die Möglichkeiten der Dekolonisierung erfahren. Und nun soll Saraswatis Karriere auf einer großen Lüge aufgebaut sein?! Es entbrennt eine komplexe und hochemotionale Debatte: Nivedita postet unter dem Pseudonym „Identitti“ auf Twitter und ihre Freundinnen organisieren Demos gegen diesen unglaublichen Fall von kultureller Aneignung. Währenddessen denkt Professorin Saraswati alle Argumente weiter, sodass bald niemand wer weiß, was PoC („Person of Color“) nun eigentlich wirklich bedeutet. Mithu Sanyals Bestseller Identitti fragte: Wer ist wer und wer kann für wen sprechen? Identitti Rezeptionista fragt: Wer spielt eigentlich wen im Theater und was passiert, wenn das Theater diverser wird?
Chaos im Diskurs von Hannah Mey
2021 versetzte Mithu Sanyals Roman Identitti die Literaturwelt in Aufruhr: Als „atemlose Lektüre“, die „den deutschen Identitätsdiskurs ins Chaos“ und die Debatte „in den Schleudergang“ stürzt, wurde der Bestseller, in dem die Autorin mit reichlich Witz und hohem Tempo durch Identitätsdebatten prescht, beschrieben. Die Katastrophe steht gleich am Anfang: Professorin Saraswati, die sich selbst als Inderin ausgegeben hatte, ist in Wirklichkeit weiß – aufgewachsen in einer westdeutschen Familie mit zwei weißen Elternteilen. Des Identitätsbetrugs angeklagt, fragt Saraswati provokant: Warum sollte man nicht selbst über die eigene Identität entscheiden dürfen?
Lange bevor die moderne Genetik das Gegenteil zeigen konnte, verbreitete sich im 18. Jahrhundert die Auffassung, Menschen gehörten einer bestimmten „Rasse“ an. Der Philosoph Kwame Anthony Appiah erklärt heute, dass mit der Entstehung der Biologie Gelehrte begannen, Menschen wie Pflanzen und Tiere in Gattungen einzusortieren, hierbei jedoch noch nicht zwischen biologischen und nicht-biologischen Aspekten unterscheiden konnten. Die Kategorien wurden in Anlehnung an das äußerliche Erscheinungsbild und die Herkunft eines Menschen aufgestellt und schließlich im Zuge des Kolonialismus als Rechtfertigung genutzt, Menschen zu versklaven. Die „weiße Rasse“ wurde erfunden und als überlegen erklärt, während den von ihr unterdrückten Menschen bestimmte Eigenschaften zugesprochen wurden, um Ausbeutung und Versklavung zu legitimieren.
Um 1900 zeigte die moderne Genetik, dass diese Vorstellungen biologisch nicht haltbar sind, denn Gene für äußerliche Merkmale wie Hautfarbe und jene für bestimmte Eigenschaften werden unabhängig voneinander vererbt. Die scheinbar mit „race“ in Verbindung stehenden Eigenschaften würden höchstens kulturell weitergegeben. Äußerlichkeiten in Verbindung mit Verhaltensweisen oder Charaktereigenschaften zu stellen, konnte wissenschaftlich nicht belegt werden. Rassistische Zuschreibungen nach diesem Muster vorzunehmen, war jedoch bereits weit verbreitet und Rassismus zum strukturellen Merkmal europäischer Gesellschaften geworden. Dagegen regt sich seither Widerstand. Das Combahee River Collective, eine Gruppe Schwarzer lesbischer Frauen, die mit der Entstehung des Begriffs der „Identitätspolitik“ zusammengebracht wird, zeigte Anfang der 70er Jahre, dass sich ihre Unterdrückungserfahrung am besten als Gruppe aus ihrer konkreten Situation als Schwarze Lesben bekämpfen ließ. Vor einem geteilten Erfahrungshorizont finden im Sinne der Identitätspolitik spezifische Gruppen zusammen, um Diskriminierung zu benennen und abzubauen. Aus einer Fremdbestimmung wird dann nicht selten eine selbstermächtigende Kollektividentität.
Saraswati möchte mit dem Wechsel ihrer Hautfarbe Teil einer solchen kollektiven Identität werden – und löst dadurch heftige Debatten und Verletzungen bei ihren Studentinnen aus. Als Reaktion auf den realen Fall von Rachel Dolezal in den USA, die mit der fiktiven Romangestalt Saraswati vergleichbar ist, erklärte die Autorin Tupoka Ogette, warum Schwarze Erfahrung und Biografie eben nicht einfach durch einen Wechsel der Hautfarbe übertragen werden könne:
„Es [ist] ein extrem respektloses Verhalten gegenüber Schwarzen Menschen, die seit Jahrhunderten und tagtäglich gegen strukturellen Rassismus kämpfen, […] und wenn dann jemand kommt und weiß ist und sich diese schwarze Jacke an- und auszieht, wie es ihr gerade beliebt, [dann ist] das eine Art Hohn für diese ganze wichtige Arbeit. […] Ich kann morgen jetzt auch nicht einfach entscheiden ‚Ich bin weiß‘, weil ich mich weiß fühle, ich werde trotzdem unter alltäglichem Rassismus leiden. […] Es wäre für sie und alle anderen viel besser gewesen, wenn sie als weiße Person gesagt hätte, sie ist eine Verbündete im Kampf gegen Rassismus und da kann sie auch Professorin für African Studies sein.“
Sanyals Roman bringt den Identitätsdiskurs in erster Linie ins Schleudern, weil er keine einfachen Antworten liefert. „Alles, was du sagst, ist richtig. Was du getan hast, ist trotzdem falsch“, bringt Nivedita es gegenüber Saraswati auf den Punkt. Das, was Saraswati theoretisch argumentiert, lässt sich nicht einfach in die Praxis übertragen. Inmitten dieser Widersprüche ermutigt der Roman, weiter fragend durch das Chaos zu gehen. Denn es bleibt komplex und kompliziert.
Menschen bei ihrer Verwandlung beobachten Interview mit Simone Dede Ayivi
Der Roman Identitti ist 2021 erschienen. Wie sah deine erste Begegnung mit diesem Stoff aus?
Ich habe den Roman direkt gelesen, als er herauskam, und erinnere mich, dass ich sehr überrascht war über das Tempo, in dem der Diskurs verhandelt wird, und dass ich es schaffe, so lange dieser Art von politischer Diskussion beizuwohnen, ohne gelangweilt zu sein.
Woran lag das? Was ist das Besondere an der Geschichte?
Das Besondere an der Geschichte von Nivedita und ihren Freundinnen ist, dass wir ihren ganzen Prozess, wie sie anfangen, sich als PoC zu positionieren und selbst zu finden, miterleben. In Saraswati haben sie jemanden, der sie damit in Berührung bringt und sie darin unterstützt. Über die Selbstfindung hinaus geht es darum zu verstehen, dass man nicht alleine ist, sondern dass es eine ganze Kultur, eine ganze Geschichte und eine Sprache dafür gibt, wer man als Person of Color in einer weißen Mehrheitsgesellschaft ist. Die Figuren befreien sich aus einem Moment des Versteckens und zeigen stolz, wer sie sind, anstatt sich anzupassen. Dann bringt dieselbe Person, die ihnen diese neue Welt eröffnet, diese Welt zum Einstürzen. Und trotzdem schaffen die Figuren es, die politischen Ideen, die politische Philosophie und das, was an Selbstfindungsprozess darin stattfand, für sich zu bewahren – auch wenn die Person, die ihnen das nahegebracht hat, fällt. Und das ist das eigentlich Faszinierende an der Geschichte.
Die Figur der Saraswati spielt ja mit der Behauptung, Identität einfach an- und ablegen zu können. Sie wurde als weiße Frau geboren und gibt sich später als „indisch“ aus, dazu nimmt sie eine Veränderung ihrer Hautfarbe und weiteren Merkmalen wie ihrer Kleidung und ihren Haaren vor und übertritt dabei Grenzen der kulturellen Aneignung. Auch im Theater verwandeln sich die Spieler:innen immer in andere Figuren und nutzen dafür Zeichen auf der Bühne. Erleichtern Theatermittel also die Auseinandersetzung mit dem Spiel mit Identitäten oder verkomplizieren sie sie?
Ich finde so spannend am Theater, dass man ganz oft sieht, wie es gemacht ist. Das Theater kann seine Mittel nicht so gut verstecken. Das Herstellen der Illusion ist immer Teil von dem, was wir sehen. Das heißt, wenn wir im Theater die Mittel noch ein bisschen bewusster offenlegen, dann können wir Menschen bei ihrer Verwandlung beobachten und auch bei den Schwierigkeiten, die so eine Verwandlung manchmal bedeutet, ohne konkret auf der Bühne darüber sprechen zu müssen. Deshalb glaube ich, dass das Theater auf den ersten Blick gut geeignet ist, sich mit diesen Themen zu beschäftigen. Das Schwierige liegt jedoch in den Strukturen hinter der Bühne: Spieler:innen und Theatermacher:innen sind selbst nah an gesellschaftspolitischen Prozessen dran und von Machtstrukturen betroffen und es gibt unterschiedliche Punkte realer Identitätsverhandlungen, an denen Menschen stehen. Die dann auf der Bühne wiedergeben zu müssen, das ist sehr kompliziert.
Der Titel der Produktion ist Identitti Rezeptionista. Was habt ihr dem Roman hinzugefügt und warum?
Wir haben der Geschichte unsere eigene Auseinandersetzung mit dem Roman hinzugefügt, weil ich im Sprechen über das Buch und auch im Lesen von Kritiken ganz schnell festgestellt habe, dass Menschen diese Geschichte sehr unterschiedlich lesen. Das hat zunächst damit zu tun, ob PoC oder weiße Personen diesen Roman lesen, aber auch damit, wie tief Leute in den Theorien, die im Roman verhandelt werden, drin stecken und was sie damit zu tun haben. Das Schöne ist, dass man das erstmal ganz wertfrei betrachten kann: Der Roman schafft es, Leute mit ganz unterschiedlichen Bezügen und Wissensständen abzuholen. Mein Ziel war, auch in unserer Gruppe diese Standpunkte abholen zu können. Die Frage war daher nicht nur: Wie erzählen wir diese Geschichte, sondern: Wie erzählen wir auch von der Reise, die wir als Menschen erleben, die sich mit dieser Geschichte beschäftigen? Was wir hinzugefügt haben, ist eine für das Theater total wichtige Frage: Wer spielt hier eigentlich wen? Genauso wie man sich überlegen kann, was es für eine Rolle spielt, dass die Figur Saraswati als PoC diese Professur innehat, können wir uns auch fragen: Wer kommt eigentlich auf der Bühne in den Genuss, was spielen zu können? In welche Rollenfächer werden Leute gesteckt und was passiert eigentlich jetzt, wo das Theater diverser wird? Welche Herausforderung bringt es mit sich, wenn sich die Gesellschaft mehr im Theater abbildet?
Wie habt ihr den akademischen Diskurs, der im Roman so präsent ist, mit der Theaterbühne zusammengebracht?
Ich finde das Faszinierendste und auch das Beruhigende an dem Roman, dass man erst denkt: Das sind ja sehr komplizierte Debatten! Aber dass dieses Buch sich so gut verkauft und so viel besprochen wird, zeigt, dass es offensichtlich sehr viele Menschen gibt, die dem folgen wollen und etwas daraus mitnehmen können. Klar, man muss einen 400-seitigen Roman auf Theaterverträglichkeit kürzen – aber mir war wichtig, dass wir komprimieren, ohne zu vereinfachen, und die Zusammenhänge in ihrer Komplexität erhalten. Wir haben in der Bühnenfassung besonders auf die Verbindung von Privatem und Politischem Wert gelegt, inwiefern die Figuren Antworten auf ihre Lebenserfahrungen in der Theorie finden oder wie Theorie Denkanstöße geben kann, die uns helfen, ein besseres Leben zu führen – also eigentlich eine sehr praktische, lebensnahe Umsetzung von Philosophie und politischer Theorie.
Das Gespräch führte Hannah Mey.