© Dorothea Tuch Ensemble

Programmzettel Mein Herz dein Bunker – 290 BPM

  • 100% Berlin
  • ntzntzntz
  • RAVE

Berlin-Friedrichshain 1993. Eine Gruppe von zehn Freund:innen entschließt sich, einen eigenen Club zu gründen und wählt dafür den früheren VEB Zentralvieh- und Schlachthof der ehemaligen DDR. In den Räumen, die von zehntausenden Rindern, Schweinen, Hammeln und Geflügel in ihren letzten Momenten vor der Schlachtung durchquert wurden, soll endlich der Ort gefunden werden, an dem sie ihren Sehnsüchten nachgehen können: Lieben, Leben und sich in der Ekstase fallen lassen. Und so wird das leerstehende Schlachthaus von der Gruppe besetzt und der Wursthof ausgerufen! Zu treibenden Technosounds erkunden sie die Räume, entdecken gemeinsam, was sie sich für einen guten Club wünschen, welche Werte sie gemeinschaftlich vertreten und was es bedeutet, Teil einer Gegenkultur zu sein. Der Wursthof wird so nach und nach zum Leben erweckt und die Party beginnt. Eine Geschichte, die ihre Vorbilder im Berlin der 90iger Jahre hat, als kurz nach dem Mauerfall leerstehende Gebäude, der Vibe des Aufbruchs und der Technosound unterschiedlicher Strömungen der Grundstein für die heute so legendäre Clubkultur Berlins waren. Für diese Inszenierung kommen das DT Jung*, die Kinder- und Jugendtanzcompany von Sasha Waltz & Guests, Artist:innen vom Cabuwazi Tempelhof, Mitglieder der Street UniverCity Berlin mit der Live DJ Chica Paula (Paula Schopf) an den Plattenspielern auf der Bühne zusammen. 

Berlin – Eine einzigartige Geschichte der Clubkultur von Jasmin Maghames

Berlin hat eine faszinierende Geschichte im Bereich Techno und Clubkultur, die in den späten 1980er Jahren begann. Nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 entwickelte sich die Stadt zu einem Schmelztiegel für kreative Köpfe, die von der Freiheit und den günstigen Lebensbedingungen angezogen wurden. Diese Umstände schufen den perfekten Nährboden für eine blühende elektronische Musikszene.

Die Stadtstruktur spielte eine Schlüsselrolle auf die Entwicklung der Technokultur: Etwa ein Drittel der Gebäude mit über 25.000 Wohnungen im Ostteil Berlins stand leer und innerhalb kurzer Zeit wurden 150 Häuser besetzt. Diese Aneignung ungenutzter Räume ermöglichte das Wachstum einer unabhängigen Szene: Keller wurden geöffnet und provisorisch zu Clubs und Bars umfunktioniert. DJs und Feiernde nutzten auch verlassene Kulturzentren der DDR für ausgedehnte Partys, so wurde z. B. die ehemalige Großgaststätte Ahornblatt zum Rave-Tempel der Exit-Partys umfunktioniert. Auch das Künstlerzentrum Tacheles in der Oranienburger Straße öffnete seine Tore für die aufstrebende Clubszene. Leere Lagerhallen am Spreeufer wurden zu Spielstätten für bunte Nachtschwärmer bei den Planet-Veranstaltungen. Diese Nächte waren für ihre fantasievollen Dekorationen bekannt, die in Kombination mit Klang, Licht und Performances ein alternatives Raum- und Zeiterlebnis schufen.In diesen temporären autonomen Zonen konnte sich die Technokultur mit ihren nächtlichen Exzessen ungestört entfalten. Die Clubszene war nicht nur für ihre Musik bekannt, sondern auch für ihre politische und kulturelle Bedeutung. Clubs waren Plattformen für gesellschaftliche Veränderungen und Toleranz.

Der Berliner Techno war musikalisch geprägt von Vielfalt und Experimentierfreude und die Musik wurde zu einem Spiegelbild der Stadt, ihrer Geschichte und der Aufbruchsstimmung nach der Wiedervereinigung.

Die Clublandschaft Berlins hat sich im Laufe der Jahre ständig weiterentwickelt. Neue Clubs entstanden, einige alte wurden zu Legenden und andere mussten schließen. Der Wandel der Stadt und ihrer Szene spiegelte sich auch in der Musik wider – von treibenden Beats bis hin zu experimentellen Klängen.

Heute bleibt Berlin eine weltweit führende Metropole für elektronische Musik und Clubkultur. Die Szene ist nach wie vor pulsierend und zieht Musikliebhaber:innen aus aller Welt an. Trotz Veränderungen und Herausforderungen bleibt die Berliner Clubszene ein Symbol für Freiheit, Vielfalt und die kreative Energie einer Stadt, die niemals schläft.

100 % Berlin von Maura Meyer

1993, kurz nach dem Mauerfall, glich Berlin einer Spielwiese. Leerstellen, Gebäude, Areale, die darauf zu warten schienen, besetzt, belebt, gestaltet zu werden. Heute leben wir in einer Zeit der Überregulierung und Raumknappheit. Umso wichtiger, dass es Orte gibt, die die Funktion der – früheren informellen – Freiräume übernehmen.

Anders als legendäre Kulturorte – wie z. B. das Tacheles – haben die Kooperationspartner der Inszenierung es geschafft, zu überleben und bieten heute ähnlichen Bedürfnissen Raum, die kurz nach dem Mauerfall die Auslöser waren, sich zusammen zu tun: Gemeinschaft zu erleben, Räume jenseits einer neoliberalen Verwertungslogik zu kreieren, einzutauchen in kreative und künstlerische Prozesse. Die kooperierenden Institutionen spannen den Bogen aus den 1990er Jahren ins Heute und bringen unter dem Dach von DT Jung* unterschiedliche Communitys zusammen. Das, was damals in einer Zeit des Aufbruchs entstanden ist, ist heute Teil der Identität Berlins. 100% Berlin.

Sascha: Ich vertraue dir.

Pupille: Wir kennen uns seit 36 Minuten, du Pappnase!

CABUWAZI in Trägerschaft der GrenzKultur GmbH ist seit 1994 ein attraktiver Ort der kulturellen Bildung und der sozialen Inklusion. Mit ihren Angeboten verwirklichen sie einen Begegnungsraum im Kontext Zirkus für Kinder und Jugendliche. Ausgangs- und Fixpunkt ihres Wirkens sind dabei immer die Interessen und Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen selbst. Mit seinen zahlreichen, unterschiedlichen Disziplinen, Genres und künstlerischen Strömungen, kann jedes Kind und jede:r Jugendliche persönliche Interessen verfolgen und eigene Stärken entdecken. Sie bilden damit einen Ort für Gemeinschaft, kreatives Schaffen und setzen sich für den Erhalt und die Weiterentwicklung des Zirkus ein. Die sechs Zirkusplätze sind lebendige Kulturorte.

SASHA WALTZ & GUESTS feierte im Herbst 2023 30jähriges Bestehen und wurde damit von Sasha Waltz und Jochen Sandig genau in dem Jahr gegründet, als der fiktive Wursthof sein Clubleben erblickte. Bis heute haben zahlreiche Künstler:innen und Ensembles als »Guests« in Produktionen und Projekten der Tanzcompagnie mitgewirkt. Zudem haben Sasha Waltz und Jochen Sandig zur Gründung wichtiger neuer Kulturorte in Berlin beigetragen, wie z. B. den Sophiensælen 1996 und dem Radialsystem 2006. Das Radialsystem als Proben- und Veranstaltungsort gab Sasha Waltz & Guests die Möglichkeit u. a. die Arbeit im Bereich Nachwuchsförderung weiter auszubauen. Die »Kinder- und Jugendtanzcompany« umfasst derzeit vier Gruppen, die regelmäßig trainieren und ihre Arbeit zeigen und wächst kontinuierlich weiter. Ziel der Arbeit von Sasha Waltz & Guests ist es, das transdisziplinäre Wissen der Compagnie noch breiter und vielseitiger zur Wirkung zu bringen und damit zu einer offenen, empathischen und freiheitlichen Gesellschaft beizutragen.

Die STREETUNIVERCITY BERLIN (S.U.B.) ist ein freier Träger für außerschulische Bildung in Berlin Kreuzberg. Egal ob Hip-Hop Kurse in Form von Rap und Beatbox-Workshops, Musikvideodrehs oder Kunst- und Radio-Workshops, hier werden Talente gefunden und gefördert. Außerdem gibt es ein Tonstudio um eigene Songs aufzunehmen – und zwar kostenlos! Die S.U.B. verknüpft internationale Jugendkulturarbeit mit Berufsorientierung und politischer Bildung: niedrig(st)schwellig, mit Mentor:innen aus dem kulturellen Umfeld der Jugendlichen. Damit erreicht sie vor allem diejenigen Jugendlichen, die durch alle herkömmlichen Bildungssysteme gerutscht sind. Sie sehen, dass das soziale und kreative Potential junger Menschen aus sozialen Brennpunkten, überwiegend mit Migrationshintergrund, kaum nachhaltig gefördert wird. In der Inszenierung sind Texte verwoben, die in Gesprächen mit Teilnehmenden der S.U.B. entstanden sind.

„Tresor war so ein offenes Streetprojekt. Da sind alle möglichen Leute gestrandet. Du hingst da ein bisschen rum und dann hattest du irgendwann einen Job.“

– Dimitri Hegemann