
Programmzettel Pygmalion
Eliza Doolittle steht ganz unten in der gesellschaftlichen Rangordnung: Ohne Geld, Bildung und ohne sprachliche Eloquenz, dafür aber mit aller Schlagfertigkeit des rauen Straßenjargons kämpft sie sich durch, indem sie Blumen an Passant:innen verkauft. Eines regnerischen Abends jedoch trifft sie auf den Sprachforscher Henry Higgins, der gleichermaßen genervt wie fasziniert von Elizas Ausdrucksweise und ihrem Verhalten scheint. Eliza hingegen sieht in Higgins ihre Chance auf ein neues Leben und bittet ihn um Sprechunterricht. Er schließt mit seinem Kollegen Colonel Pickering eine Wette ab: Higgins wird Eliza innerhalb von drei Monaten in die gehobene Gesellschaft der englischen Upper-Class einführen.
George Bernard Shaw schrieb sein ironisch- satirisches Werk als vermeintliche Romanze ohne Happy End. Pygmalion basiert auf dem gleichnamigen Mythos des Ovid: Ein Bildhauer meißelt sich kurzerhand die perfekte Skulptur und verliebt sich prompt in sie. Shaws Stück wurde viele Jahre später als Liebesgeschichte adaptiert und unter dem Titel My Fair Lady zum weltweiten Broadway- und Kino-Erfolg.
Bastian Kraft stellt das Sprachexperiment ins Zentrum seiner Auseinandersetzung. Gemeinsam mit den biografischen Erfahrungen der Schauspieler:innen findet er einen persönlichen Zugang dazu, wie Sprache und Klasse miteinander verbunden sind. Was ist eigentlich „schlechtes“ Sprechen? Können wir alle möglichen sozialen Rollen spielen, sobald wir uns ihre Sprache aneignen? Und wetten wir letztlich nicht jeden Tag mit uns selbst, ob die anderen uns unsere eigene Rolle abkaufen werden?
SEIN & SHINE Ein Gespräch mit dem Regisseur Bastian Kraft und der Choreografin Angélique Mimi
Was hat dich an der Figur der Eliza – die in deiner Inszenierung mehrfach besetzt ist – besonders interessiert und fasziniert?
Bastian Kraft Mich beschäftigt die Frage, warum Eliza eine so starke Identifikationsfigur ist. Das große Missverständnis über diese Figur besteht darin zu glauben, dass sie in ihren Handlungen weitgehend passiv sei, sie zufällig in dieses Experiment hineinstolpert ist und von da an nur Higgins’ Anweisungen folgt. Dabei trifft sie ja ganz autonom die Entscheidung, Sprechunterricht nehmen zu wollen. Sie ist es, die zu Higgins geht, nicht umgekehrt. Sie ist es, die ihr Schicksal in die Hand nimmt. Das ist bemerkenswert vor dem Hintergrund, dass die Idee eines potenziellen sozialen Aufstiegs alles andere als selbstverständlich für sie ist. Ich habe enormen Respekt vor ihrer Eigeninitiative und vor ihrem erstaunlich-sicheren moralischen Instinkt. Letztlich ist es wohl ihr Traum von einem selbstbestimmten Ich, der mich so sehr für sie einnimmt. Sie verweigert sich der vermeintlichen Zwangsläufigkeit, dass ihre Rolle im sozialen Gefüge der Welt vorherbestimmt sei. Eliza möchte frei sein zu entscheiden, wer oder was sie ist. Dass sie dann im letzten Akt die Grenzen dieser Freiheit immer klarer erkennt, erscheint mir wie ein Akt des Erwachsenwerdens. Und deshalb würde ich wahnsinnig gern wissen, wie wohl ihr Leben ein Jahr nach Ende des Stücks aussehen würde.
Angélique, du gehörst in Deutschland zu den bekanntesten Performer:innen der Ballroom-Szene. Worum geht es in der Ballroom-Kultur?
Angélique Mimi Ballroom ist eine Subkultur aus Harlem (New York), die in den 1960er Jahren aus einem gesellschaftlichen Erfahrungsraum der afro- und lateinamerikanischen, queeren Community entstammt und von Marginalisierung geprägt ist. Die soziokulturell geformte Ballroom-Kultur wird auf glamourösen Bällen gefeiert, mit denen die Akteur:innen sich einen eigenen sicheren Raum geschaffen haben, um eine Welt zu inszenieren, die ihnen selbst nicht zugänglich war. Dabei treten die Teilnehmenden in verschiedensten Kategorien (wie zum Beispiel Realness oder Vogue Fem) auf einem Runway, einem Laufsteg, gegeneinander an, um Preise zu gewinnen.
Was ist Ballroom für dich persönlich?
Für mich bedeutet Ballroom unter anderem eine Freiheit, die eigene Identität ausleben zu können. Anstatt sich von gesellschaftlichen Normen determinieren oder limitieren zu lassen, spielt man mit ihnen. Im Ballroom entsteht ein Ort der Selbstentfaltung, in dem es möglich ist, sich und den eigenen Körper wertzuschätzen und sich darin selbst zu entwickeln. Im Ballroom gibt es unterschiedliche Titel, die an die Performer:innen vergeben werden, für den Einfluss und den Beitrag, den sie in der Szene geleistet haben. Als „legend“ (Legende) und als eine der ersten Voguer:innen in Deutschland bin ich selbst seit über einem Jahrzehnt fest in der Ballroom-Szene verankert und sehr dankbar dafür, dass ich damals in diese Community aufgenommen wurde.
Wo siehst du die Verbindung zwischen dem Pygmalion-Text und dem Runway auf der Bühne?
Während beim Pygmalion-Text die verbale Sprache mit der Intention verwendet wird, gesellschaftliche Klassen aufzuzeigen und zu überwinden, wird in der Ballroom-Kultur der Laufsteg als zentrales Element dafür genutzt. Die Auseinandersetzung, mit der Sprache, dem Habitus und den Codes einer Klasse, von der man sonst ausgeschlossen ist, wird hier gleichgesetzt mit dem Training und der Performance auf dem Laufsteg. Das Auftreten auf dem Runway des Balls ermöglicht den Teilnehmenden eine Parallelwelt zu erschaffen, in der sie die Anerkennung und Zugehörigkeit erfahren können, die ihnen in der Gesellschaft sonst verwehrt bleibt. Auf der einen Seite wird damit so das eigene Selbst zelebriert, auf der anderen Seite wird aktiv daran geübt, in einer ausgrenzenden Gesellschaft zu bestehen und sich zu behaupten.
Ein gutes Beispiel dafür ist die Kategorie BQ Executive Realness, in der es darum geht, als Performer:in sich so authentisch wie möglich, wie ein erfolgreicher, heterosexueller Manager oder Geschäftsmann zu kleiden und zu performen. Je „authentischer“ die Person diesen erfolgreichen Geschäftsmann darstellt, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, diese Kategorie zu gewinnen. Somit fungiert der Laufsteg zugleich als Bühne und als Trainingsort
Bastian, warum hast du dich für George Bernard Shaws Theatertext „Pygmalion“ entschieden und was bedeutet er für dich heute?
Bastian Kraft Shaw zeigt die Mechanismen von Sexismus und Klassismus, um sie dann zu brechen und zu unterhöhlen. Das Stück ist eine wahnsinnig clever arrangierte Versuchsanordnung, wird darin aber nie plakativ, weil immer wieder doppelte Böden in die Konstruktion eingezogen sind: Der Akademiker, der die „feine“ Sprache lehren soll, ist in vielerlei Hinsicht selbst erschreckend unkultiviert. Der vermeintlich ungebildete Müllkutscher entpuppt sich als hellsichtiger Philosoph, der ganz nebenbei die Doppelmoral des Kapitalismus demaskiert. Und das charmante Blumenmädchen Eliza zeigt Zeichen von eiskaltem Snobismus, noch bevor sie überhaupt in den gehobeneren Kreisen angekommen ist. Die sozialen Theorien, die da verhandelt werden, mögen auf klaren Gegensätzen beruhen, aber die Figuren, die Shaw aufeinander loslässt, sind zu komplex, als dass sie sich zu bloßen Bedeutungsträger:innen oder Vertreter:innen bestimmter sozialer Klassen reduzieren ließen. Menschen sind wahrscheinlich fast immer komplizierter als die Theorien, mit denen wir sie zu fassen versuchen. Und Shaw hat spürbar Spaß daran, seine Themen aus möglichst vielen Blickwinkeln zu betrachten und Gewissheiten immer wieder auf den Kopf zu stellen.
Das Gespräch führte Christopher-Fares Köhler.