
Programmzettel Ulrike Maria Stuart
Wieder einmal beschwört Elfriede Jelinek die Gespenster der Vergangenheit herauf. In Anklang an Schillers Drama Maria Stuart treffen die schottische Herrscherin Maria Stuart und ihre englische Konkurrentin Elisabeth I. zum Königinnenstreit über die Deutungshoheit in der Geschichte und die (Un-)Möglichkeit politischen Handelns zusammen. Überblendet werden Schillers Königinnen von den Ikonen des linken Terrors: Ulrike Meinhof als Maria Stuart und Gudrun Ensslin als Elisabeth I. Die Justizvollzugsanstalt Stammheim und der englische Kerker werden zum tödlichen Kampfplatz der Emanzipation, zur politischen Bühne von Geschlecht und Macht. Ein vielstimmiges Spiel um politische Verantwortung beginnt, bei dem die Konturen der historischen Vorlagen verwischen. Die Stimmen von Ulrike Meinhof und Elfriede Jelinek verschmelzen im Nachdenken über politisches Schreiben als Auslöser für gesellschaftliche Veränderung. Das Kopfkino der Ulrike Maria Jelinek beginnt: ein Horrortrip durch die Gothic-Kulissenwelt in der Geisterbahn der Geschichte.
Ist das nicht schon ein Grund, auf die Straße zu gehen und eine anarchistische, radikale Gruppe zu gründen? Ein Gespräch mit der Regisseurin Pınar Karabulut
Elfriede Jelinek hat Ulrike Maria Stuart im Jahr 2006 geschrieben, wenige Monate vor dem 30. Gedenkjahr des Deutschen Herbstes. Nun sind gut 50 Jahre seit den Anfängen der terroristischen Gruppierung vergangen. Wieviel Gegenwart steckt noch in Jelineks Text?
Aktuell befinden wir uns leider in sehr sensiblen Zeiten in Deutschland. Oft heißt es, wir müssten aufpassen, weil ein Rechtsruck bevorstünde. Wir sind jedoch, meiner Meinung nach, bereits mittendrin. Die politische Lage lässt Jelineks Text damit aktueller werden als uns recht ist. Potenziert durch den Standort des Deutschen Theaters, quasi in unmittelbarer Nähe des Regierungszentrums, untersuchen wir die politischen Fragen, die sich bereits mit der RAF gestellt haben und die wir uns wieder stellen müssen: Wann ist zum Beispiel Widerstand politisch und wann ist er Terrorismus? Was ist eine politische Aktion und was bedeutet es heute, politisch zu sein? Wann muss ich als Zivilbürger:in mein politisches Engagement in Taten umsetzen und was bedeutet das für die gesamte Gesellschaft?
Aktuell ist auch die Frage nach den Formen der Legitimation von Gewalt. So ist auch Sprache ein Akt der Gewalt, wenn zum Beispiel der Bundeskanzler ganz konkret sagt, es müsse mehr abgeschoben werden. Oder gewisse Gruppen ihren Hass in den Bundestag hineintragen und damit den vor sich hin köchelnden Hass in diesem Land potenzieren. Ist das nicht schon ein Grund, auf die Straße zu gehen und eine anarchistische, radikale Gruppe zu gründen? Es ist spannend und leider traurig, dass Jelineks Text von 2006 so an Aktualität gewinnt in Deutschland.
Dies ist deine erste Inszenierung eines Jelinek-Textes. Wie sind deine Erfahrungen mit ihrer Schreibweise?
Das Interessante an Jelinek ist, dass sie sehr assoziativ arbeitet, dass sie sich ein Thema vornimmt und aus diesem Thema unzählige neue Themen entwickelt. Diese assoziativen Sprachräume sind inszenatorisch natürlich auch sehr spannend, weil sie Welten eröffnen, die je nach Rezipient:in anders aufgenommen werden. Das Leben ist ja auch nicht nur etwas Einschichtiges, es hat verschiedene Schichten und Layer, die unsere Wahrnehmung, unsere Lebensrealität als Menschen ausmachen.
„Die Frau ist eben nicht in der gleichen Weise in der Welt wie der Mann (…), wenn Frauen Geschichte machen wollen“, hat Jelinek in Bezug auf Ulrike Maria Stuart einmal notiert. Welche Bedeutung hat es für dich, dass die Protagonistinnen des politischen Kampfes zwei Frauen sind?
Für mich sind Protagonistinnen des politischen Kampfes immer Frauen*. Wir können in der Kulturgeschichte der Menschheit sehen, dass Frauen* vorne stehen, wenn es um politische Kämpfe geht. Sei es in der Vergangenheit, sei es jetzt in der Gegenwart – und in der Zukunft wird es weiterhin so sein. Es sind Männer, die Frauen* aus den Geschichtsbüchern streichen oder diese durch patriarchale Praktiken gesellschaftlich unterwerfen. Ohne die Kraft und das politische Engagement von Frauen* und deren Aktivismus würden wir nur in Kriegen versinken und die Länder hätten sich schon längst gegenseitig zerbombt. Wir brauchen in der Politik mehr Frauen*, welche wahrhaftig feministische Politik betreiben und nicht das Patriarchat rekonstruieren und reproduzieren, um eine neue Wählerschaft zu gewinnen. Mir ist es wichtig, auch in meinen Inszenierungen Frauen* den Raum auf der Bühne zu geben. Sie sollen selbstbestimmt handeln. Das ist das Spannende an diesem Stück, dass zwei Königinnen aufeinandertreffen und sich spielerisch einen Schlagabtausch liefern. Sie lieben und sie hassen sich. Sie erkennen sich selbst im System und schauen mit neuem Blick aufeinander. Die Königinnen verhandeln das patriarchale Machtsystem und dessen Scheitern in ihrem Schlagabtausch – immer und immer wieder und mit großer Chuzpe.
Als du geboren wurdest, befand sich die dritte Generation der RAF bereits in ihrer Auflösungsphase. Was ist vom Mythos der RAF geblieben?
Als Kind der 1990er und 2000er Jahre habe ich über die RAF in der Schule in Westdeutschland nichts gelernt. Sie war nur eine Randnotiz. Dabei ist das ein wichtiger Moment der deutschen Geschichte und der immer wieder auftauchenden Identitätskrise Deutschlands seit 1945. Die mangelnde Aufarbeitung der eigenen Geschichte in Deutschland führt zu einer Fehlinterpretation des politischen Ichs. Politisierung funktioniert hier oft durch Radikalisierung und dem daraus folgenden Hass. So haben sich sogar die zweite und dritte Generation der RAF im Laufe der Jahre immer mehr vom intellektuellen Diskurs verabschiedet und sich einer Radikalität mit Mord und Totschlag bedient, die genauso aus der rechten Ecke kommen könnte. Dabei kann Deutschland doch auch anders – so, wie es uns erst kürzlich um die 200.000 Menschen auf der Demonstration in Berlin und noch viele mehr im ganzen Land gezeigt haben.
Dead Women Walking von Daniel Richter
Das Theater von Elfriede Jelinek ist Beschwörungstheater. Und diesmal gräbt die nobelpreisgekrönte Totenausgräberin mit ihrem Sprachwerkzeug im Schutt der deutschen Nachkriegsgeschichte und beschwört die Gespenster der Terrorköniginnen der Roten Armee Fraktion herauf: Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin, die neben Andreas Baader zu den führenden Köpfen der ersten Generation der RAF gehörten. Die linksterroristische RAF hatte in den 70er Jahren den bewaffneten Kampf gegen einen Staat aufgenommen, der mit seiner nationalsozialistischen Vergangenheit nicht gebrochen hatte. Zahlreiche Nazis waren in der jungen Bundesrepublik weiterhin in Regierungskreisen, Sicherheitsbehörden und der Justiz tätig. Im Untergrund hatte die Journalistin Ulrike Meinhof, die zur Symbolfigur der deutschen Linken geworden war und als intellektuelle Denkerin der Bewegung galt, zusammen mit Gudrun Ensslin und Andreas Baader die RAF gegründet. Eine Terrorwelle erschütterte Deutschland durch eine Serie von Banküberfällen, Einbrüchen und Bombenanschlägen auf Kaufhäuser, Medienkonzerne und militärische Einrichtungen. Wenn sich die RAF nach 28 Jahren auch selbst in die Geschichte entlassen hat, so lebt der Mythos um ihre Gruppierung bis in die Gegenwart fort. Mediale Inszenierungsstrategien wurden gezielt zur Heroisierung und zur Verklärung terroristischer Gewalt eingesetzt, um sich medienwirksam zu Pop-Ikonen eines linken Terror-Spektakels zu stilisieren.
Now it’s showtime!
Elfriede Jelineks Stück Ulrike Maria Stuart setzt an diesem Punkt an, indem sie den popkulturellen Mythos RAF aus kritischer Distanz dekonstruiert und das Scheitern der linken Revolutionär:innen spöttisch entlarvt. Jelinek zitiert Erinnerungsmomente aus dem Leben von Ulrike Meinhof aus den Jahren 1970-1976: das Abtauchen in die Illegalität nach der gewaltsamen Befreiung Andreas Baaders, den Anschlag auf den Springer-Verlag, die „Mai-Offensive“ und die darauffolgende Großfahndung durch die „Operation Wasserschlag“, die Festnahme Gudrun Ensslins in einer Hamburger Boutique, die Isolationshaft im Hochsicherheitstrakt des Gefängnisses Stuttgart-Stammheim, den Hungerstreik, der Zerfall des Trios Baader, Meinhof, Ensslin durch die Konkurrenz zwischen den Frauen um den Führungsanspruch, den Selbstmord Meinhofs durch Erhängen in ihrer Gefängniszelle sowie Sartres Besuch bei Andreas Baader in Stammheim.
Doch Jelineks Auseinandersetzung ist keine historisch verbürgte Analyse der Entstehung der Gruppe und ihrer Ideale, sondern literarische Geschichtsfiktion. Dazu greift sie auf Friedrich Schillers Drama Maria Stuart (1800) zurück und überlagert die linken Terror-Königinnen Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin mit den Königinnen Elisabeth I. von England und Maria Stuart, Königin von Schottland. Elisabeth hat Maria wegen ihrer Ansprüche auf den englischen Thron gefangen nehmen lassen, hadert aber mit der Unterzeichnung ihres Todesurteils. In der Schlüsselszene des Dramas, in der sich die beiden Königinnen treffen, vereitelt Maria ihre Begnadigung, indem sie Elisabeth beleidigt. Ein verbaler Schlagabtausch der streitenden Königinnen setzt ein, der Maria am Ende den Kopf kosten wird.
Bei Jelinek wird der englische Kerker zur Stammheimer Zelle, in der Maria als Ulrike und Elisabeth als Gudrun zu einem wechselseitigen Spiel der Verstellungen um die Führungsrolle in der RAF aufeinandertreffen. Ironisch kommentiert Jelineks Text die Vergeblichkeit der Revolte, die weder eine Erlösung aus dem bestehenden System noch neue Bilder erwirkt hat. Selbst die linksterroristischen Königinnen als Frauen an der Macht reproduzieren patriarchale Herrschaftsmuster. Jelinek schreibt keine klassischen Figuren. Es sind ,sprechende Kadaver‘, in deren Körper sie Biografisches, Versatzstücke aus den Kassibern der RAF, Dokumentarisches aus Stefan Austs Der Baader Meinhof Komplex, Kommentare, Diskurszusammenhänge, Zitate und Sprachspiele einlagert. Die zur Einheit gemorphten Ulrike/Maria und Gudrun/Elisabeth sind Assoziationsfiguren. Die Frage, was aus der linken Revolution geworden ist, hallt gespensterhaft durch das Stück.
Das Vergessen tötet das Gedächtnis
Jelinek ist bekennender Fan von Horrorfilmen der 60er, 70er Jahre, als das Zombie-Image vom Bildvorrat der Popkultur geprägt wurde. Durchgängig arbeitet sie in ihrem Werk mit den ästhetischen Mitteln des Horror-Genres. Jelinek verleiht der Wiederkehr des Verdrängten eine Zombie-Silhouette, um sich über das Genre mit dem Fortbestehen des Faschismus auseinanderzusetzen. In ihrer Literatur stehen die Opfer des Faschismus als Untote wieder auf, um im Sprechen gegen das kulturelle Vergessen erinnert zu werden. Bei Jelinek treten sie indirekt über die Wiedergänger der RAF ins Leben, die Kinder der NS-Generation, die angetreten waren, dem Fortleben des Faschismus ein Ende zu bereiten. Die Ablehnung der terroristischen Mittel steht ambivalent der Sehnsucht nach einem linken Korrektiv gegenüber. Die RAF hat die Verantwortung für ihr Erbe verspielt, indem sie rechte Gewalt mit linkem Terror erwiderte. Offen bleibt: Was machen eigentlich die Enkel- und Urenkelkinder der NS-Generation?
Seht ihr selbst, dass wir tot sind?
Jelineks Roman Die Kinder der Toten ist ein Urtext ihrer Zombieliteratur. Was sie über den Roman sagt, kann ebenso für Ulrike Maria Stuart gelten:
„Und in diesem Zwischenreich, in dem auch die Zeitstruktur aufgehoben ist (man kann rätseln, in welchem Zeitraum sich zum Beispiel die Handlung des Romans überhaupt abspielt, in einer Stunde oder in ein paar Monaten), spielen die Kinder der Toten. Sie werden offengehalten wie Tore, damit durch sie die Geister der Toten, der Verdrängten (und die Opfer werden ja auch verdrängt, je öfter in diesen ritualisierten Gedenkfeiern von ihnen die Rede ist, sie werden zu einer Art Formel, die ständig wiederholt wird, aber eine neue Totmachung bedeutet) der Geschichte, der Opfer wieder auf die Welt zurückkommen, sich ihr Leben zurückholen können. Im Roman geschieht das in der ganzen Bandbreite von Pathos, gnostischem Geheimwissen und der groben Trivialität von Pornos oder splatter movies, wo Blut und andre Körperflüssigkeiten nur so aus den Seiten herausspritzen. Wenn man das Pathos an manchen Stellen riskieren will, darf man auch das Triviale nicht scheuen. Das alles sehe ich als einen Versuch, das Unheimliche nichtmehr heimlich ablaufen zu lassen, sondern es an die Oberfläche zu zerren, andrerseits dem Heim seine Heimeligkeit zu vergällen. Vielleicht ist das eine Metapher für den Künstler: Er kann nichts so lassen, wie es ist. Er muß immer etwas machen. So wie das Land Tote erzeugt hat, in einem Ausmaß wie es das nie zuvor gegeben hatte, so erzeugt die Künstlerin etwas, das nicht da ist, aber da sein müsste. Deswegen tut sie es ja: weil es fehlt und hergeholt werden muss. Einer muss es ja machen. Sich die Hände dreckig machen, indem er mit Lehm, mit Dreck und mit Schutt herumgräbt und das Verdrängte (das aber natürlich trotzdem da ist) wieder ausgräbt. Eine umgekehrte Totengräber-Arbeit. Der Künstler als Toten-Ausgräber!”
Wenn die Stimme von Ulrike Meinhof mit der von Elfriede Jelinek über das politische Schreiben als Potenzial gesellschaftlicher Veränderung verschmelzen, dann hat der fast horror trip to slow suicide durch die Gothic-Kulissenwelt im Kopfkino der Ulrike Maria Jelinek die Einfahrt in die Geisterbahn der Geschichte genommen.
Zitate aus: Stefan Aust: Der Baader Meinhof Komplex. München 1998. / Elfriede Jelinek: Ulrike Maria Stuart. Hamburg 2015. / Elfriede Jelinek: Ich als Totenausgräberin. JELINEK[JAHR]BUCH. Elfriede Jelinek Forschungszentrum 2012.