Programmzettel Wüste
Ein Motel in der Wüste, in dessen Nähe: ein Filmset. Während der Hauptdarsteller Tom in einem Fatsuit schwitzt und darauf wartet, dass seine nächste Szene gedreht wird, wartet seine Frau Chloe darauf, dass ihr Gesicht nach ihrer Schönheits-OP heilt. Blind und hilflos ist sie mehr denn je abhängig von ihrer Assistentin Hannah, mit der sie immer wieder den Text für ihren Filmauftritt durchgeht. Anders als Tom hat Chloe nur eine kleinere Rolle und anders als er, der junge Star, muss sie in ihren mittleren Jahren mehr investieren: in ihr Aussehen und in ihre Kunst. Und Hannah, ihre Assistentin? Wacht immer wieder an anderen Orten auf und hat keine Ahnung, wie sie dorthin gekommen ist. Und sucht, abgesehen davon, nach dem Sinn ihres Lebens. Drei Menschen in der Wüste, verflochten in einem Dreieck aus fleischlichen Begierden und professionellen Abhängigkeiten, gefangen an einem unwirtlichen Ort, der aus nichts als Hitze, Staub und Langeweile zu bestehen scheint. Unbeheimatet warten sie in einem Motelzimmer auf etwas, das sich ereignen soll – rund um die leere Mitte einer Existenz, die aus Rollen besteht, die sie anziehen und ausfüllen, so gut und so intensiv es geht, bis dieser Vorgang sich in etwa so anfühlt wie Leben. Die Leere im Inneren spiegelt sich in der äußeren Leere der Wüste, die Menschen verschluckt und anderswo ausspuckt – wie eine Kinderdarstellerin, die vom Drehort verschwindet und plötzlich im Motelzimmer auftaucht ... Sam Max spielt mit typischen Versatzstücken amerikanischer Kultur und denkt anhand klassischer Motive wie Motel, Wüste, Hollywood nach über Körperbilder, Beziehungsweisen und Techniken der Selbstdarstellung.
Liebe und Leere Ein Gespräch mit Sam Max
Du arbeitest das erste Mal als Amerikaner:in in Deutschland. Wie geht es Dir damit?
In Amerika denke ich nicht unbedingt von mir selbst als Amerikaner:in. Ich trage viele verschiedene historische Schichten von Diaspora und Umsiedelung in mir. Meine Familie ist in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach New York ausgewandert. Die Vorfahren meines Vaters sind sephardische Juden aus der Türkei, und auf der Seite meiner Mutter sind es osteuropäische Juden, die im Holocaust zerstreut wurden. Ich würde sagen, dass mein Verhältnis zu meiner Nationalität, meiner geographischen Herkunft und Geschichte sehr verwirrt und spröde ist. Das ist wohl so, wenn man mit Menschen aufwächst, die traumatisiert sind von ihrer diasporischen Herkunft. Und wenn das soziale Umfeld in anderer Weise traumatisiert ist, verstärkt das den Effekt noch. Genau genommen bin ich nicht in New York aufgewachsen, sondern im Rust Belt [dem größten amerikanischen Industriegürtel im Nordosten der USA], in einer sehr homophoben und antisemitischen Gegend, die auf der sozialen Ebene durch und durch unfreundlich und zurückweisend zu mir war. Die meiste Zeit meines Lebens war ich extrem einsam, auf diese Weise habe ich gelernt zu überleben. Als Mitglied einer jüdischen Familie bin ich unweigerlich immer in der Minderheit. Und bevor mir Wege gezeigt wurden, wie ich dazugehören könnte, wurde ich auch als Kind schon von meinen Altersgenoss:innen ständig daran erinnert, dass ich anders bin, weil ich queer bin. All das hat einen psychologischen Preis. Um damit klarzukommen, habe ich den Großteil meines Lebens Kunst gemacht. Meine Stimme zu finden und eine Arbeitsweise zu entwickeln, hat meinem Leben überhaupt erst Sinn gegeben und mir einen Zugang geschaffen zu dem, was ich sein könnte. Und jetzt, wo ich mit meiner Arbeit international in Deutschland wahrgenommen werde, bin ich plötzlich Amerikaner:in! Das ist eine Erfahrung, die mich gerade ein bisschen orientierungslos macht. Denn, wie gesagt, aufgewachsen bin ich in dem Wissen, dass ich nicht dorthin gehöre, wo ich herkomme.
Aber in deinem Stück sieht man viele Einflüsse amerikanischer Kultur!
Natürlich gibt es in meiner Arbeit viele ästhetische Einflüsse in Beziehung zu Amerika, aber es ist ein Unterschied, ob man aus einem ästhetischen Interesse heraus mit der Mythologie, Symbolik und den Archetypen Amerikas arbeitet oder ob man eine „amerikanische Perspektive repräsentiert” – was immer das auch ist. Es fühlt sich an, als stünde ich mit einem Bein drinnen, mit einem draußen. Es gibt ein Zitat eines Autors, den ich mag, Derek McCormack, der gesagt hat: „Ich kenne keinen homosexuellen Künstler, der nicht etwas trotz seiner Heimatstadt geschaffen hat.” Wahrscheinlich trifft diese Beobachtung auch auf mich zu. An den allermeisten Tagen wache ich auf und hasse mein Land. Mir scheint aber, als sei ein großer Teil der deutschen Kultur darauf aus, Besucher:innen an all das zu erinnern, weswegen sie nicht dazu gehören – physisch, kulturell, sozial, politisch. Dieses Gefühl kenne ich aus anderen Zusammenhängen sehr gut, und ehrlich gesagt kommt ein Großteil meines Werks aus der Erfahrung von Nichtzugehörigkeit und zieht seine Inspiration aus Figuren, die ausgeschlossen sind oder unsichere Beziehungen haben zu den Orten, an denen sie leben.
Neben deiner persönlichen Geschichte, aus der du so umfassend schöpfst, welche Einflüsse würdest du für dein Schreiben geltend machen?
In Amerika habe ich eine Schauspielausbildung absolviert, aber im letzten Jahr habe ich mich mehr dem Schreiben und Regieführen gewidmet. Grundsätzlich wird man in Amerika mithilfe eines sehr speziellen Kanons von Theaterstücken ausgebildet, die alle zum Amerikanischen Realismus gehören: Eugene O’Neill, Sam Shepard, Tennessee Williams, Edward Albee und viele mehr. Diese Literaturtradition basiert stark auf Psychologie und Figuren. Als Schauspieler:in verbringt man viel Zeit damit, verschiedene Strategien zu erlernen, mit denen man sich vor Publikum einen physischen und emotionalen Zugang zu diesen Texten schaffen kann. Ich habe lange damit gekämpft, mich in Figuren wiederzufinden, die nichts mit mir gemein hatten, denn viele dieser Stücke wurden von Autoren geschrieben, von denen ich nicht das Gefühl hatte, sie würden meine eigene Psychologie repräsentieren (außer vielleicht Williams, in einer bestimmten, wichtigen Sache). Für mich gab es nicht viele Rollen und ich war einfach kein:e sehr gute:r Schauspieler:in, denn ich fühlte, dass ich etwas anderes zu sagen hätte, jenseits des „Aufgehens” in einem Stück, das ich mir nicht auf alchemistische Weise aneignen konnte. Mich interessiert die Schilderung emotionaler Situationen: die emotionalen Taktiken, die Menschen nutzen, um sich selbst zu erkennen und all die Unordnung und Komplexität, die entsteht, wenn wir uns, immer wieder, das ganze Leben hindurch, neu kennen lernen. Mich interessiert die Herausforderung, mich selbst in Figuren wiederzufinden, die ganz anders sind als ich, sogar in welchen, die ich moralisch herausfordernd oder auch schwierig finde.
Du kommst also aus dem Amerikanischen Realismus – und willst wohin?
Ich suche nach neuen und unerwarteten Situationen und Themen, in denen ich neue Aspekte von mir finden kann. Jede meiner Arbeiten sieht anders aus, weil ich schnell anfange mich zu langweilen. Das gleiche immer wieder zu tun, das kann ich nicht. Ich will immer etwas neu erfinden und möchte mich nicht aufgrund einer bestimmten Identität bezeichnet sehen: als queere:r Künstler:in, als amerikanisch:er Künstler:in, als jüdische:r Künstler:in etc. Das würde sich furchtbar strategisch und narzisstisch anfühlen und auch meiner Arbeitsweise nicht gerecht werden: Darin versuche ich mich selbst zu verstehen durch Figuren, die „von” mir sind, die aber definitiv nicht „ich” sind. Eine Figur ist eine äußere Hülle, sie steht für sich selbst und lebt aus sich selbst heraus, und sie bietet mir die Möglichkeit, mich selbst zu verstehen (und wir uns, als Publikum) – auf eine neue Art. Deswegen finde ich es aufregend, mich mit immer neuen Figuren zu beschäftigen. Und um die Idee weiterzuspinnen: Ich würde gerne eine Adaption schreiben, mit Figuren, die es bereits gibt und die ich nicht mehr erfinden muss.
Der Originaltitel des Stücks lautet The Holes (Die Löcher), ein sehr anspielungsreicher Titel, der nur schwer zu übersetzen ist.
Der Titel spielt auf viele Themen im Stück an, aber am wichtigsten ist wohl, dass es ein Bild für die Figuren ist, so wie ich sie sehe. Das Stück schildert drei Erwachsene in ständigem Hin und Her zwischen Verbindung und Auflösung – zueinander, aber auch zur Realität. Sie sind unersättliche Wesen, die ihr eigenes Gefühl von Leere mit Beziehungen zu anderen oder mit Arbeit oder mit materiellen Dingen füllen müssen, und tatsächlich ist es die Unmöglichkeit ihrer Befriedigung, die sie in mancher Hinsicht voneinander fernhält. Für jede:n von ihnen kommt die Leere aus ganz verschiedenen Quellen und manifestiert sich unterschiedlich, aber sie sind vereint und verbunden durch ihre „Lochhaftigkeit”: ihre Unersättlichkeit, ihre Hohlheit. Es ist kein Zufall, dass ich heterosexuelle Figuren geschrieben, aber einen schwulen Slang-Ausdruck für ihre Bezeichnung genutzt habe: "being a hole". Und dass die einzige Figur, die tatsächlich zufrieden ist mit ihrem Leben, das vermisste Mädchen ist, ist sicher kein Zufall: Ein Kind, das alles und nichts zu wissen scheint, das total glücklich damit ist, unabhängig und allein in einer Welt zu leben, die es sich selbst geschaffen hat. Mich interessiert die Frage, was mit unserer Fähigkeit ist, uns selbst zu genügen? Wie verändert sie sich von der Kindheit durch das Erwachsenenalter bis ins hohe Alter?
Worum geht es in Wüste für dich?
Um Schauspieler:innen.
Ja, aber ...
Als ich das Stück schrieb, habe ich mich in meinen derzeitigen Partner verliebt und über ein paar sehr dunkle Stellen in meiner Seele nachgedacht, die dieser romantische Prozess hervorbrachte. Ich war erst vor ein paar Jahren das erste Mal verliebt. Vorher nicht wirklich. Ich bin ein hochsensibler und emotionaler Mensch und musste plötzlich mit neuen inneren Stimmen klarkommen: solchen, die verzweifelt, bedürftig, unbehaglich waren, die fühlten, dass sie niemals zufrieden sein und immer etwas vermissen würden. Also habe ich versucht, über Liebe zu schreiben – und schrieb schließlich über Leere. Daher kommt das Bild des menschlichen „Lochs”. Während ich das Stück schrieb, hat mich ein Essay von Anne Carson stark beeinflusst: Der bittersüße Eros. Anhand von griechischen Dichter:innen, z. B. Sappho, spricht sie über ein ziemlich privates Thema: erotisches Begehren. Eine ihrer Thesen ist, dass Erotik nur existiert, wenn es ein Gefühl von etwas Fehlendem zwischen den Partner:innen gibt, oder etwas potenziell Fehlendes. Das heißt, sie denkt, wir sind mehr angetörnt voneinander, wenn wir fühlen, dass wir nur vorübergehend bestimmt sind füreinander; wenn wir das Gefühl haben, dass die sexuelle Verbindung jederzeit aufhören kann. Es gibt Leute, die sich erotische Spielereien ausdenken, um diese Idee für sich zu simulieren.
Du arbeitest auch als Filmregisseur:in und kehrst doch immer wieder zum Theater zurück. Warum?
Theater und Performance motivieren mich durch ihre Unmöglichkeit. Theatermachen ist total unordentlich, immerzu verfehlt man etwas, und es kann nie vollständig kontrolliert, gemeistert oder vorhergesehen werden. Der Grund dafür ist, dass Theater als Medium primär in Beziehungen existiert, und Beziehungen wandeln sich ständig. Das ist so von Produktion zu Produktion und sogar von Vorstellung zu Vorstellung. Aus diesem Grund denke ich, dass Theater eine sehr wichtige Kunstform ist, anhand derer man lernen kann, wie es geht: das unperfekte menschliche Bemühen, zusammen etwas Unmögliches zu wollen und herauszufinden, wie man zusammenarbeiten kann im Lichte dieser Unerreichbarkeit. Ich denke, es gibt Theaterregisseur:innen, die vielleicht versuchen, diese Unmöglichkeit zu leugnen, indem sie sehr streng jeden Aspekt des Prozesses kontrollieren, und vielleicht führt das auch zu ästhetisch konsequenten Ergebnissen oder befriedigt persönlich in mancherlei Hinsicht. Für mich ist es aber so: Das Theater erlaubt mir, meine Beziehungen auszustellen, in ihrer ganzen Unperfektheit. Ich verliere das Interesse, wenn etwas zu einfach geht, zu systematisch wird oder zu schnell bekannt ist. Ich mag es, Harmonie innerhalb von Unordnung, Instabilität und Fehltritten zu finden. Das lässt mich das Leben spüren. Theater ist ein großartiger Ort, um sich lebendig zu fühlen inmitten von Chaos und Fehlerhaftigkeit – und um darin Sinn zu finden. Und das betrifft die Künstler:innen am Theater genau wie ihr Publikum.
Das Gespräch führte Karla Mäder.