© Eike Walkenhorst Ensemble

Programmzettel Ursonate [Wir spielen, bis uns der Tod abholt]

  • Lautgedicht
  • Anti-Kunst
  • Bürgerschreck
  • Sprachschöpfung

Ein Orchester wagt die glorreiche Revolution! Zwischen Aufbruch, Krisen, Buchstabensalat, Lautgebilden und Nonsens spielt es um Leben und Tod auf der Suche nach Zuversicht und einer neuen Sprache. Getreu der Maxime Kurt Schwitters „das Ziel ist ernst, der Weg humorvoll“, stimmt die dadaistische Hauskapelle gemeinschaftlich an gegen die Verwirrungen und den Irrsinn unserer Tage. Egal wie stark der Gegenwind ihnen entgegenbläßt, gespielt wird, bis sie der Tod abholt. Spielerisch dekonstruiert Kurt Schwitters, Dada-Künstler, Dichter, Komponist und Werbegrafiker, in seinen Arbeiten die bildungsbürgerliche Kunst. Über neun Jahre schrieb er an seinem Lautgedicht Ursonate, während um ihn herum die Krisen der modernen Welt tobten. Die ideologisch vereinnahmte Sprache befreite er, indem er sie auf ihre Urlaute reduzierte, Grammatik und Semantik auflöste und neue Bedeutung schaffte. Diese absurde Lautpoesie mit Brüllen, Zischen, Krähen war für ihn Revolte und Beginn von etwas Neuem. Vive la crise! Oder mit den Worten des Bürgerschrecks: Fümms bö wö tää zää Uu.  

Ganz ohne Worte  Ein Gespräch mit dem Komponisten Peer Baierlein

Die Ursonate habt Ihr als dadaistische Sprechoper bezeichnet. Was verstehst du unter dieser Genrebezeichnung? 

Ich möchte Dadaismus ein wenig mit zeitgenössi­scher Musik vergleichen. Die klassische Musik zeichnet sich u.a. durch Harmonie, Melodie und Rhythmus aus. Diese Parameter werden in der zeitgenössischen Musik weitestgehend auf gelöst und andere Aspekte spielen eine Rolle. Ähnlich ist es bei der Ursonate: ein Stück, das auf den ersten Blick ohne Handlung und Rguren aus­ kommt. Die klassischen Elemente eines Textes scheinen unauffindbar. Andere Gesichtspunkte treten in den Vor­dergrund. Man konnte unseren Abend als eine Art Kreuz­bestaubung beschreiben: In der Musik des Abends greift man auf die Ingredienzen einer klassisch komponierten Oper zurück: Harmonie. Rhythmus und Melodie. Im Text verzichtet man hingegen auf die klassischen literarischen Merkmale. Der Begriff Sprechoper impliziert außerdem, dass - neben schauspielerischen Gesichtspunkten - sehr viel gesungen und rhythmisch gesprochen wird. 

Du sprichst von nicht vorhandenen Figuren und einer nicht vorhandenen Handlung, zudem besteht Schwitters Ursonate, bis auf das Wort „rakete”, ausschließlich aus Lauten beziehungsweise sprachlichem Matenat. Wie haben Sich diese besonderen Voraussetzungen auf deinen Kompositionsprozess ausgewirkt? 

Jede Komposition ist eine besondere Herausforde­rung, da der Vorgang des Komponierens für mich wie ein Spiegel ist: Ich werde standig mit eigenen Schwächen, Unsicherheiten und Wissenslücken konfrontiert. Für den eigentlichen Kompositionsvorgang macht es keinen Unterschied, ob es Figuren oder eine Handlung gibt. Im Vorfeld besprechen die Regisseurin Claudia Bauer (oft in Zusammenarbeit mit der Dramaturgie) und ich, was der Abend erzählt, wo welche Farbe bzw.  Stimmung vorkommen soll und welches musikalische Genre oder welche Epoche wir verfolgen wollen. Mit diesen Informationen versuche ich dann, etwas Organisches entstehen zu lassen und mit der Musik in der Fantasie der Menschen Figuren und Handlungsstränge hervorzurufen.
Auch die Ursonate in der vorliegenden Bearbeitung erzählt übrigens durchaus eine Geschichte. Die Schauspieler:innen brauchen keine 'normalen' Worte, um etwas zu erzählen. Sie können mit ihrer Mimik, der Körperhaltung und ihrem Tonfall, ganz ohne Worte, alles zum Ausdruck bringen.

Die Regisseurin Claudia Bauer und dich verbindet eine langjährige Zusammenarbeit. Was war bei dieser Produktion besonders?

Normalerweise gibt es die Regie-Arbeit von Claudia, in die dann die Musik eingearbeitet wird. Das heißt, wir proben parallel szenisch und musikalisch und fügen dann beides zusammen. In diesem Fall nimmt die Musik einen derart großen Raum ein, dass wir erst die komplette Partitur (über 200 Seiten) mit den singenden Schauspieler:innen erarbeiten mussten und dann den Abend szenisch entwickelt haben. Zudem galt es, mit zwei Instrumenten eine vielfältige Klangwelt zu erschaffen. Es war wichtig, dass unsere Schlagzeugerin auch Vibraphon spielt, weil wir dadurch mehrstimmige Akkorde erzeugen können. Auch unsere Cellistin benutzt Effekte und eine Loop-Station, mit der sie zusätzliche Klangfarben schaffen kann. Dadurch fühlt es sich fast wie ein Orchester in Miniatur-Format an.

Do you really understand? von Daniel Richter

Etwas Ungeheuerliches hat sich zugetragen: Ein Kind sieht einen Mann stehen. Es ruft die Mutter, diese wiederum den Vater, der wiederum einen Nachbarn ruft, bis sich zuletzt eine aufgebrachte Menschenmenge um den stehenden Mann versammelt, erzürnt, dass dieser schweigend jede Auskunft über sein ungeheuerliches Herumstehen verweigert. Unter den Menschen ist Alves Bäsenstiel, der in dem stehenden Mann einen Verführer des Volkes zu erkennen glaubt, der die Menge gegen den ungeheuerlichen Provokateur aufhetzt und eine Massenhysterie verursacht. Ein Polizeibeamter soll die Ordnung wieder herstellen, scheitert aber an dem Versuch, den Mann zu verhaften, da dieser in Ruhe weggegangen ist, worauf die große glorreiche Revolution ausbricht. Eine eigenartige Groteske, die Kurt Schwitters in der Erzählung Franz Müllers Drahtfrühling aus den Jahren 1919/1920 schildert, in der ein Mann eine Revolution entfacht, indem er nichts macht. 

My Art and My Life
Wer ist dieser Mann, der einfach dasteht und – wie es im Text heißt – an eine wandelnde Plastik des Autors selbst erinnert? Sollte es sich um ein Alter Ego des Autors handeln, sich der Autor selbst zum Bestandteil der fiktiven Merzwelt gemacht haben? Auch Kurt Schwitters hielt im Sturmlauf der Geschichte des vergangenen Jahrhunderts inne und revolutionierte als grenzüberschreitender Sonderling mit seiner avantgardistischen Kunst die ästhetischen und gesellschaftlichen Konventionen seiner Zeit. Auch er verweigerte jede eindeutige psychologisierende Biografisierung seiner Person. “When I was born, 20. 6. 87, I was influenced by Picasso to cry. When I could walk and speak I still stood under Picasso’s influence and said to my mother: “Tom” or “Happening” meaning the entrances of the canal under the street. My lyrical time was when I lived in the Violet Street. I never saw a violet. That was my influence by Matisse because when he painted rose I did not paint violet.” Schwitters irrlichterte, verblüffte, provozierte und erheiterte. Ob eine Urinflasche oder eine Zigarettenkippe von Hans Arp, ihm war nichts zu alltäglich oder zu banal, um daraus Kunst zu machen. Seine Kunst war eigenwillig und bizarr, anarchistisch und sinnentleert: Kunst aus Abfallresten, eine verwinkelte Holzplanken-Grotte, ein Alphabet von hinten, Höhlenskulpturen, mit Bindfäden verbundene Alltagsgegenstände, eine Wohnung ohne Außenwelt und Nonsens-Gedichte. Geboren am 20. Juni 1887 und aufgewachsen in Hannover ging er für ein Studium der Malerei an die Königlich Sächsische Akademie der Künste in Dresden. 1915 zog er mit seiner Frau Helma Fischer zurück nach Hannover in die gemeinsame Wohnung im Elternhaus in der Waldstraße 5. Dort entstand in den folgenden Jahren sein Merzbau, eine begehbare Innenplastik über mehrere Etagen, versehen mit Säulen, Höhlen und Grotten. 1937 emigrierte Schwitters auf der Flucht vor den Nationalsozialisten nach Norwegen, 1940 musste er erneut vor den deutschen Truppen fliehen, die seine Kunst als entartet bezeichneten. Über Umwege kam er nach England, wo er 1948 starb. 

Zwischen den Kriegen
Schwitters Kunst war geprägt von den Nachbeben des Ersten Weltkriegs. Enttäuschung und Wut über die Heuchelei vergangener Glaubenssätze sowie Ängste im Angesicht einer ungewissen Zukunft führten zu mentalen Grabenkämpfen zwischen Parteien, Ideologien, Populisten und Fanatikern. Der Krieg hatte sich vom Schlachtfeld in die Köpfe verlagert. Mit dem Krieg zerfiel die vertraute Ordnung in ihre Bruchstücke. Dabei hatte der Neuanfang bei Kriegsende 1918 euphorisch begonnen mit dem Sturz des deutschen Kaisers und der Ausrufung der ersten demokratischen Republik auf deutschem Territorium. Die junge Weimarer Republik war eine atemlose Zeit, in der sich widersprechende Strömungen überlagerten. Liberale Modernisierungsschübe und Selbstermächtigungsversuche gingen zeitgleich einher mit einem sich stetig radikalisierenden Konservatismus und reaktionärer Besitzstandswahrung. Gewerkschaften bildeten sich, politische Rechte für Frauen wurden diskutiert, Arbeiteraufstände organisiert. Eine Blütezeit der Kunst setzte ein, die Kinokultur entwickelte sich, die Goldenen  Zwanziger Jahre erheiterten die Menschen mit Charleston und Jazz aus Harlem. Gleichzeitig versetzten neue Technologien die Menschen in einen schwindelerregenden Beschleunigungsrausch, das Maschinenzeitalter läutete die Vorherrschaft von Industrie und Kapitalismus ein, bis die Weltwirtschaftskrise, eine Politik der Massen sowie eine faschistische Propaganda, die Zugang zu den bürgerlichen Salons gefunden hatte, als Brandbeschleuniger fungierten und die Gesellschaft auf die nächste Katastrophe – Nationalsozialismus und Krieg – zusteuerte.

„Kaputt war sowieso alles, und es galt,  aus den Scherben Neues zu bauen.“
Die fundamentalen Krisen sickerten in den Künstler Schwitters ein, bevor er sie in seinem künstlerischen Kosmos zu Merz aufbereitete, wie er seine eigene Kunst bezeichnete. Eine Silbe, die er aus dem Wort der damaligen „Kommerz- und Privatbank“ herausgeschnitten hatte. Seine Kunst diente ihm als Gegenentwurf zur wilhelminischen Kultur, zum Wahnsinn der Kriege und zur bürgerlichen Ordnung. Die Collage wurde zu seinem ästhetischen Prinzip. Durch die Verwendung zufällig gefundener Abfälle und Fundstücke aus der Wirklichkeit, aus deren Verfremdung, Umwertung und Verwandlung in der Kunst neue Perspektiven und Sinnzusammenhänge entstanden, wollte er zur notwendigen Erneuerung beitragen.

Fümms bö wö tää zää Uu, pögiff, kwii Ee
Mit seinem Lautgedicht Ursonate schuf er eine Sprachcollage, die Konventionen zertrümmerte, Wahrnehmung revolutionierte und Neues imaginierte. Sie folgt in der Struktur einer klassischen Sonate, in die er sein verwildertes Sprachmaterial einsortierte. Eine Anti-Sonate, die oberflächlich den Anschein von willkürlich zusammengesetzten Buchstabenfolgen erweckt, die Schwitters aber akribisch genau konstruierte und an der er über neun Jahre (1923-1932) arbeitete. Durch die Entfesselung des Sprachmaterials aus Logik, Grammatik und Semantik tritt das Klangliche und das Rhythmische in den Vordergrund. Das Gestische der neuen Lautformationen und die Performativität der Klangbildung lassen assoziativ Situationen, Atmosphären und Bilder entstehen. Bei genauer Lektüre ihrer klanglichen Elemente erscheint die Ursonate  als variantenreicher Klangkörper in polyphoner Orchesterstruktur, die musikalisch unterschiedliche Genres, Stile, Motive und Perspektiven zum Ausdruck bringt, Leitmotive anlegt, diese auflöst, variiert und Einzelstimmen in einem zyklischen Aufbau gegeneinander führt. Durch die Konzentration auf die musikalischen Parameter gelingt es Schwitters, eine ästhetische Erfahrungswelt zu eröffnen, in deren vielstimmigen Gefühlshaushalt die Zuhörerschaft sich einfühlen kann. Wenn Kurt Schwitters sich auch von allen Altlasten der jüngsten Vergangenheit befreien wollte, liegt der Gefühlshaushalt der orientierungslosen Jahre zwischen den Kriegen lautphonetisch unter der Oberfläche der vermeintlich bedeutungslosen Ursonate. Oder auch nicht. “Do you know what I mean?! Language is only a medium to feel. Not to understand. Do you understand that? Do you really understand? Do you understand that there  are things which you cannot understand?”